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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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mit möglich grösster Treue beobachte und wiedergebe. Aber pwa_196.002
auch nur mit möglich grösster. Die täuschende Nachahmung der Wirklichkeit, pwa_196.003
das Streben nach äusserlicher Illusion darf immer nur so weit pwa_196.004
gehn, als die Idee des Kunstwerkes und die Schönheit es gestatten pwa_196.005
und fordern: sowie jedoch die Illusion anfängt, die Idee zu beeinträchtigen, pwa_196.006
sowie sie dem Principe des Schönen, der Einheit, widerstrebt, pwa_196.007
so bald muss auch der Dichter von ihren Aeusserlichkeiten pwa_196.008
etwas zum Opfer bringen, und er wird es der Einbildungskraft des pwa_196.009
Reproducierenden getrost anheimgeben, dass sie ergänze, was noch zu pwa_196.010
der vollen Wahrheit der gemeinen Wirklichkeit gebricht; er wird der pwa_196.011
Kraft des Schönen so viel vertrauen, dass von ihr gefangen der Reproducierende pwa_196.012
die Masse und die Bedingungen der gewohnten Alltäglichkeit pwa_196.013
für einige Zeit vergessen müsse; er wird es auch auf Illusion pwa_196.014
absehen: aber es wird eine Illusion von höherer und edlerer, von pwa_196.015
geistiger Art sein, darin bestehend, dass auf dem Standpuncte der pwa_196.016
Kunst als Wirklichkeit erscheint, was unterhalb desselben eine Unwirklichkeit pwa_196.017
ist.

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Der Dramatiker wird also, wenn der einheitliche Verlauf der pwa_196.019
Handlung es fordert, plötzlich die Scene ändern; er wird ferner den pwa_196.020
fünf Minuten, die zwischen zwei Acten verfliessen, etwa den Werth pwa_196.021
und die Geltung von fünf Tagen geben: denn er zählt darauf, dass pwa_196.022
diese Unnatürlichkeit, aus der organischen Nothwendigkeit seiner Production pwa_196.023
heraus betrachtet, ganz natürlich erscheinen, und dass die Einbildung pwa_196.024
seiner Zuschauer Schnellkraft genug besitzen werde, um mit pwa_196.025
einer Secunde sich in ganz andre räumliche Verhältnisse zu versetzen pwa_196.026
und über fünf Tage, in denen für die Handlung nichts geschieht, auch pwa_196.027
hinweg zu springen, als wären sie gar nicht vorhanden. Diesen pwa_196.028
achtungsvollen Glauben an die Gewalt der Poesie, diess Zutrauen zu pwa_196.029
den geistigen Fähigkeiten der Zuschauer hatten aber jene französischen pwa_196.030
und nachfranzösischen Theoretiker und Practiker nicht, konnten sie pwa_196.031
auch in den wenigsten Fällen haben, da den wenigsten Dichtern unter pwa_196.032
ihnen selbst eine so bewältigende Kunst eigen war, und das Publicum sich pwa_196.033
auch bewusst und unbewusst der Bequemlichkeit und der Pedanterei pwa_196.034
hingegeben hatte. So giengen sie denn auf eine ganz gemeine Illusion pwa_196.035
aus: die Vorstellung auf der Bühne sollte den Zuschauer dadurch täuschen, pwa_196.036
dass sie mit der Wirklichkeit ausserhalb der Bühne Stück für pwa_196.037
Stück übereinstimmte, dass die Zeit auf der Bühne nicht schneller pwa_196.038
vergieng als sonst, dass die Scene niemals verändert ward, weil es pwa_196.039
ja im gewöhnlichen Leben gar nicht möglich ist, so plötzlich einen pwa_196.040
Ort gegen den andern zu vertauschen. Von reproducierender Mitthätigkeit pwa_196.041
der Zuschauer, von Ansprüchen des Dichters auf ihre Einbildungskraft

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mit möglich grösster Treue beobachte und wiedergebe. Aber pwa_196.002
auch nur mit möglich grösster. Die täuschende Nachahmung der Wirklichkeit, pwa_196.003
das Streben nach äusserlicher Illusion darf immer nur so weit pwa_196.004
gehn, als die Idee des Kunstwerkes und die Schönheit es gestatten pwa_196.005
und fordern: sowie jedoch die Illusion anfängt, die Idee zu beeinträchtigen, pwa_196.006
sowie sie dem Principe des Schönen, der Einheit, widerstrebt, pwa_196.007
so bald muss auch der Dichter von ihren Aeusserlichkeiten pwa_196.008
etwas zum Opfer bringen, und er wird es der Einbildungskraft des pwa_196.009
Reproducierenden getrost anheimgeben, dass sie ergänze, was noch zu pwa_196.010
der vollen Wahrheit der gemeinen Wirklichkeit gebricht; er wird der pwa_196.011
Kraft des Schönen so viel vertrauen, dass von ihr gefangen der Reproducierende pwa_196.012
die Masse und die Bedingungen der gewohnten Alltäglichkeit pwa_196.013
für einige Zeit vergessen müsse; er wird es auch auf Illusion pwa_196.014
absehen: aber es wird eine Illusion von höherer und edlerer, von pwa_196.015
geistiger Art sein, darin bestehend, dass auf dem Standpuncte der pwa_196.016
Kunst als Wirklichkeit erscheint, was unterhalb desselben eine Unwirklichkeit pwa_196.017
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Der Dramatiker wird also, wenn der einheitliche Verlauf der pwa_196.019
Handlung es fordert, plötzlich die Scene ändern; er wird ferner den pwa_196.020
fünf Minuten, die zwischen zwei Acten verfliessen, etwa den Werth pwa_196.021
und die Geltung von fünf Tagen geben: denn er zählt darauf, dass pwa_196.022
diese Unnatürlichkeit, aus der organischen Nothwendigkeit seiner Production pwa_196.023
heraus betrachtet, ganz natürlich erscheinen, und dass die Einbildung pwa_196.024
seiner Zuschauer Schnellkraft genug besitzen werde, um mit pwa_196.025
einer Secunde sich in ganz andre räumliche Verhältnisse zu versetzen pwa_196.026
und über fünf Tage, in denen für die Handlung nichts geschieht, auch pwa_196.027
hinweg zu springen, als wären sie gar nicht vorhanden. Diesen pwa_196.028
achtungsvollen Glauben an die Gewalt der Poesie, diess Zutrauen zu pwa_196.029
den geistigen Fähigkeiten der Zuschauer hatten aber jene französischen pwa_196.030
und nachfranzösischen Theoretiker und Practiker nicht, konnten sie pwa_196.031
auch in den wenigsten Fällen haben, da den wenigsten Dichtern unter pwa_196.032
ihnen selbst eine so bewältigende Kunst eigen war, und das Publicum sich pwa_196.033
auch bewusst und unbewusst der Bequemlichkeit und der Pedanterei pwa_196.034
hingegeben hatte. So giengen sie denn auf eine ganz gemeine Illusion pwa_196.035
aus: die Vorstellung auf der Bühne sollte den Zuschauer dadurch täuschen, pwa_196.036
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Stück übereinstimmte, dass die Zeit auf der Bühne nicht schneller pwa_196.038
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/214>, abgerufen am 24.11.2024.