Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_203.001 pwa_203.021 pwa_203.038 pwa_203.001 pwa_203.021 pwa_203.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0221" n="203"/><lb n="pwa_203.001"/> allgemein verbreitet, wiewohl sie in den dorischen Städten schon <lb n="pwa_203.002"/> frühzeitig mag abgekommen sein, die Sitte nämlich, dass der Chor, <lb n="pwa_203.003"/> um die Satyrgestalt nachzuahmen, sich in Bocksfelle hüllte. Wenn <lb n="pwa_203.004"/> man nun diesen ganz allgemeinen Ausdruck dennoch auf die eine Art <lb n="pwa_203.005"/> des Dramas einschränkte, so geschah das nur auf Anlass des Namens <lb n="pwa_203.006"/> der andern ihr entgegengesetzten Art, der Comödie. Auch <foreign xml:lang="grc">κωμῳδία</foreign> <lb n="pwa_203.007"/> hat wohl wie <foreign xml:lang="grc">τραγῳδία</foreign> einen doppelten Ursprung und Sinn. Von der <lb n="pwa_203.008"/> fröhlicheren Seite aufgefasst, war Dionysos vorzüglich eine ländliche <lb n="pwa_203.009"/> Gottheit, und mit seinem Cultus waren Umzüge verbunden, während <lb n="pwa_203.010"/> die ernstere Feier eher an Tempel und Altar gebunden blieb. Daher <lb n="pwa_203.011"/> kann der erste Bestandtheil dieses Wortes einmal <foreign xml:lang="grc">κώμη</foreign> sein, der <lb n="pwa_203.012"/> dorische Ausdruck für den Begriff des attischen <foreign xml:lang="grc">δῆμος</foreign>, für <hi rendition="#i">Dorf,</hi> offenen <lb n="pwa_203.013"/> Ort, im Gegensatze zur Stadt, so dass man besonders an die <lb n="pwa_203.014"/> Chorgesänge jener dorischen Periöken zu denken hätte; dann auch <lb n="pwa_203.015"/> <foreign xml:lang="grc">κῶμος</foreign> d. h. ein mit Gesang und Schmauserei verbundener fröhlicher <lb n="pwa_203.016"/> <hi rendition="#i">Festumzug.</hi> Beide Worte, <foreign xml:lang="grc">κώμη</foreign> und <foreign xml:lang="grc">κῶμος</foreign>, nehmen in der Zusammensetzung <lb n="pwa_203.017"/> die gleiche Gestalt an, und es ist ein unfruchtbarer Streit <lb n="pwa_203.018"/> der Etymologen, ob man in <foreign xml:lang="grc">κωμῳδία</foreign> jenes oder dieses zu verstehn <lb n="pwa_203.019"/> habe: man thut besser an beide zu denken, da man an beide denken <lb n="pwa_203.020"/> darf. So viel über die Namen Tragödie und Comödie.</p> <p><lb n="pwa_203.021"/> Es beruht aber der innere und wesentliche Unterschied der tragischen <lb n="pwa_203.022"/> und der komischen Poesie auf dem verschiedenen Verhältniss, <lb n="pwa_203.023"/> in welchem bei der Production und der Reproduction die dichtenden <lb n="pwa_203.024"/> Kräfte zu einander stehn; darauf, welche dieser dichtenden Kräfte in <lb n="pwa_203.025"/> Zwiespalt mit einander gerathen. Denn ein Conflict der einen oder <lb n="pwa_203.026"/> der andern Art findet immer statt. Das Drama hat sich ja erst <lb n="pwa_203.027"/> gebildet durch eine Vermischung und Verschmelzung der Epik mit <lb n="pwa_203.028"/> der Lyrik, d. h. einer Dichtart, bei deren Conceptionen die Einbildung <lb n="pwa_203.029"/> die Hauptsache ist, mit einer andern, in der das Gefühl die Oberhand <lb n="pwa_203.030"/> hat. Da kann denn eine Zwiespältigkeit beider Seelenkräfte nicht <lb n="pwa_203.031"/> ausbleiben: bald wird sich das Gefühl in seinen lyrischen Empfindungen <lb n="pwa_203.032"/> verletzt fühlen von den epischen Anschauungen der Einbildung; bald <lb n="pwa_203.033"/> wird wieder die Einbildung dem Gefühle weichen müssen. Zu dem <lb n="pwa_203.034"/> Gefühle kommt dann noch der Verstand und theilt mit ihm den Zwist <lb n="pwa_203.035"/> und die Niederlage. Je nachdem sich nun diese Entzweiungen gestalten <lb n="pwa_203.036"/> und entscheiden, je nachdem ist das Drama entweder eine Tragödie <lb n="pwa_203.037"/> oder eine Comödie.</p> <p><lb n="pwa_203.038"/> Als Resultate und Formen des unentschiedenen Zwiespaltes zwischen <lb n="pwa_203.039"/> Einbildung und Gefühl haben wir früherhin (S. 23 fgg.) kennen gelernt die <lb n="pwa_203.040"/> Laune, die Wehmuth und den Humor. Bei der Laune wie bei der <lb n="pwa_203.041"/> Wehmuth, beidemal lässt die von der Einbildung angeschaute Wirklichkeit </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [203/0221]
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allgemein verbreitet, wiewohl sie in den dorischen Städten schon pwa_203.002
frühzeitig mag abgekommen sein, die Sitte nämlich, dass der Chor, pwa_203.003
um die Satyrgestalt nachzuahmen, sich in Bocksfelle hüllte. Wenn pwa_203.004
man nun diesen ganz allgemeinen Ausdruck dennoch auf die eine Art pwa_203.005
des Dramas einschränkte, so geschah das nur auf Anlass des Namens pwa_203.006
der andern ihr entgegengesetzten Art, der Comödie. Auch κωμῳδία pwa_203.007
hat wohl wie τραγῳδία einen doppelten Ursprung und Sinn. Von der pwa_203.008
fröhlicheren Seite aufgefasst, war Dionysos vorzüglich eine ländliche pwa_203.009
Gottheit, und mit seinem Cultus waren Umzüge verbunden, während pwa_203.010
die ernstere Feier eher an Tempel und Altar gebunden blieb. Daher pwa_203.011
kann der erste Bestandtheil dieses Wortes einmal κώμη sein, der pwa_203.012
dorische Ausdruck für den Begriff des attischen δῆμος, für Dorf, offenen pwa_203.013
Ort, im Gegensatze zur Stadt, so dass man besonders an die pwa_203.014
Chorgesänge jener dorischen Periöken zu denken hätte; dann auch pwa_203.015
κῶμος d. h. ein mit Gesang und Schmauserei verbundener fröhlicher pwa_203.016
Festumzug. Beide Worte, κώμη und κῶμος, nehmen in der Zusammensetzung pwa_203.017
die gleiche Gestalt an, und es ist ein unfruchtbarer Streit pwa_203.018
der Etymologen, ob man in κωμῳδία jenes oder dieses zu verstehn pwa_203.019
habe: man thut besser an beide zu denken, da man an beide denken pwa_203.020
darf. So viel über die Namen Tragödie und Comödie.
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Es beruht aber der innere und wesentliche Unterschied der tragischen pwa_203.022
und der komischen Poesie auf dem verschiedenen Verhältniss, pwa_203.023
in welchem bei der Production und der Reproduction die dichtenden pwa_203.024
Kräfte zu einander stehn; darauf, welche dieser dichtenden Kräfte in pwa_203.025
Zwiespalt mit einander gerathen. Denn ein Conflict der einen oder pwa_203.026
der andern Art findet immer statt. Das Drama hat sich ja erst pwa_203.027
gebildet durch eine Vermischung und Verschmelzung der Epik mit pwa_203.028
der Lyrik, d. h. einer Dichtart, bei deren Conceptionen die Einbildung pwa_203.029
die Hauptsache ist, mit einer andern, in der das Gefühl die Oberhand pwa_203.030
hat. Da kann denn eine Zwiespältigkeit beider Seelenkräfte nicht pwa_203.031
ausbleiben: bald wird sich das Gefühl in seinen lyrischen Empfindungen pwa_203.032
verletzt fühlen von den epischen Anschauungen der Einbildung; bald pwa_203.033
wird wieder die Einbildung dem Gefühle weichen müssen. Zu dem pwa_203.034
Gefühle kommt dann noch der Verstand und theilt mit ihm den Zwist pwa_203.035
und die Niederlage. Je nachdem sich nun diese Entzweiungen gestalten pwa_203.036
und entscheiden, je nachdem ist das Drama entweder eine Tragödie pwa_203.037
oder eine Comödie.
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Als Resultate und Formen des unentschiedenen Zwiespaltes zwischen pwa_203.039
Einbildung und Gefühl haben wir früherhin (S. 23 fgg.) kennen gelernt die pwa_203.040
Laune, die Wehmuth und den Humor. Bei der Laune wie bei der pwa_203.041
Wehmuth, beidemal lässt die von der Einbildung angeschaute Wirklichkeit
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