Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_202.001 pwa_202.003 pwa_202.005 pwa_202.012 pwa_202.020 pwa_202.001 pwa_202.003 pwa_202.005 pwa_202.012 pwa_202.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0220" n="202"/><lb n="pwa_202.001"/> Bühne nicht verzweifeln, wer nicht überhaupt an der Litteratur verzweifeln <lb n="pwa_202.002"/> will.</p> <p><lb n="pwa_202.003"/> Wir gelangen nunmehr zur Betrachtung der verschiedenen Arten <lb n="pwa_202.004"/> dramatischer Poesie.</p> <p><lb n="pwa_202.005"/> Hier sind nur zwei Hauptarten, zwei hauptsächliche Richtungen <lb n="pwa_202.006"/> zu unterscheiden: alles Weitere ist stäts nur ein irgendwie abgezweigter <lb n="pwa_202.007"/> Nebenweg der einen oder der andern oder ein vermittelnder Zwischenweg <lb n="pwa_202.008"/> zwischen beiden. Diese zwei Hauptarten sind die <hi rendition="#b">Tragödie</hi> und <lb n="pwa_202.009"/> die <hi rendition="#b">Comödie,</hi> oder zu deutsch <hi rendition="#i">Trauerspiel</hi> und <hi rendition="#i">Lustspiel.</hi> Aeltere <lb n="pwa_202.010"/> Benennungen der Comödie sind <hi rendition="#i">Freudenspiel, Scherzspiel, Schimpfspiel</hi> <lb n="pwa_202.011"/> (von <hi rendition="#i">Schimpf</hi> d. h. Scherz, Spott).</p> <p><lb n="pwa_202.012"/> Die deutschen Namen gehn mit ihrer vordern, der unterscheidenden <lb n="pwa_202.013"/> Hälfte mehr auf das innere Wesen beider Dichtarten, bezeichnen <lb n="pwa_202.014"/> die Wirkung auf den Zuschauer oder auch die Art, wie der Dichter <lb n="pwa_202.015"/> selbst dabei thätig ist. Die griechischen Benennungen Tragödie und <lb n="pwa_202.016"/> Comödie treffen mehr nur Aeusserlichkeiten, und die Unterscheidung <lb n="pwa_202.017"/> beider Namen ist mehr zufällig und willkürlich. Beide nämlich weisen <lb n="pwa_202.018"/> zurück auf den Ursprung des Dramas aus dem Dithyrambus, dem für <lb n="pwa_202.019"/> die dionysischen Feste bestimmten mimischen Chorgesang.</p> <p><lb n="pwa_202.020"/> Der weite Umfang und die Mannigfaltigkeit der dionysischen <lb n="pwa_202.021"/> Mythen gaben aber eine verschiedenartige Auffassung dieser Gottheit <lb n="pwa_202.022"/> an die Hand, verliehen ihrer Verehrung bei verschiedenen Völkerschaften <lb n="pwa_202.023"/> und in verschiedenen Zeiten und Umständen auch einen verschiedenen <lb n="pwa_202.024"/> Character: man konnte den Dionysus feiern mehr als den <lb n="pwa_202.025"/> fröhlichen und erfreuenden Gott der Weinbauer und Hirten; aber auch <lb n="pwa_202.026"/> mehr als einen ernsten, leidenden, dem Reiche des Todes selbst verfallenen <lb n="pwa_202.027"/> Gott, es gab auch einen <foreign xml:lang="grc">Διόνυσος Ζαγρεύς</foreign>, den Zeus mit <lb n="pwa_202.028"/> Persephone erzeugte, und der von den Titanen zerfleischt ward: es <lb n="pwa_202.029"/> konnte also der Dithyrambus sowohl von heiteren Thaten des Gottes <lb n="pwa_202.030"/> singen als von Leiden desselben. Es ist wahrscheinlich, wenn schon <lb n="pwa_202.031"/> nicht ausgemacht, dass der ernstere Cultus in den dorischen Städten, <lb n="pwa_202.032"/> der fröhliche bei den Ioniern, den Aeoliern und unter den Periöken <lb n="pwa_202.033"/> der Dorier stattfand. In dieser zwiefachen Richtung des Dithyrambus <lb n="pwa_202.034"/> liegt der Zwiespalt von Tragödie und Comödie schon deutlich genug <lb n="pwa_202.035"/> vorgebildet und vorbereitet. Dass man sie aber grade so benannte <lb n="pwa_202.036"/> und unterschied, ist namentlich für die Tragödie kaum mehr als eine <lb n="pwa_202.037"/> blosse Zufälligkeit. <foreign xml:lang="grc">Τραγῳδία</foreign>, <hi rendition="#i">Bocksgesang,</hi> so konnte man, ehe es <lb n="pwa_202.038"/> ein eigentliches Drama gab, jedweden Dithyrambus nennen, und <lb n="pwa_202.039"/> nannte auch wirklich jedweden so: denn überall war mit dem feierlichen <lb n="pwa_202.040"/> Dionysusdienste ein Bocksopfer verbunden; und noch eine andre <lb n="pwa_202.041"/> Sitte, die den zweiten Grund dieses Namens hergiebt, war ursprünglich </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [202/0220]
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Bühne nicht verzweifeln, wer nicht überhaupt an der Litteratur verzweifeln pwa_202.002
will.
pwa_202.003
Wir gelangen nunmehr zur Betrachtung der verschiedenen Arten pwa_202.004
dramatischer Poesie.
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Hier sind nur zwei Hauptarten, zwei hauptsächliche Richtungen pwa_202.006
zu unterscheiden: alles Weitere ist stäts nur ein irgendwie abgezweigter pwa_202.007
Nebenweg der einen oder der andern oder ein vermittelnder Zwischenweg pwa_202.008
zwischen beiden. Diese zwei Hauptarten sind die Tragödie und pwa_202.009
die Comödie, oder zu deutsch Trauerspiel und Lustspiel. Aeltere pwa_202.010
Benennungen der Comödie sind Freudenspiel, Scherzspiel, Schimpfspiel pwa_202.011
(von Schimpf d. h. Scherz, Spott).
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Die deutschen Namen gehn mit ihrer vordern, der unterscheidenden pwa_202.013
Hälfte mehr auf das innere Wesen beider Dichtarten, bezeichnen pwa_202.014
die Wirkung auf den Zuschauer oder auch die Art, wie der Dichter pwa_202.015
selbst dabei thätig ist. Die griechischen Benennungen Tragödie und pwa_202.016
Comödie treffen mehr nur Aeusserlichkeiten, und die Unterscheidung pwa_202.017
beider Namen ist mehr zufällig und willkürlich. Beide nämlich weisen pwa_202.018
zurück auf den Ursprung des Dramas aus dem Dithyrambus, dem für pwa_202.019
die dionysischen Feste bestimmten mimischen Chorgesang.
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Der weite Umfang und die Mannigfaltigkeit der dionysischen pwa_202.021
Mythen gaben aber eine verschiedenartige Auffassung dieser Gottheit pwa_202.022
an die Hand, verliehen ihrer Verehrung bei verschiedenen Völkerschaften pwa_202.023
und in verschiedenen Zeiten und Umständen auch einen verschiedenen pwa_202.024
Character: man konnte den Dionysus feiern mehr als den pwa_202.025
fröhlichen und erfreuenden Gott der Weinbauer und Hirten; aber auch pwa_202.026
mehr als einen ernsten, leidenden, dem Reiche des Todes selbst verfallenen pwa_202.027
Gott, es gab auch einen Διόνυσος Ζαγρεύς, den Zeus mit pwa_202.028
Persephone erzeugte, und der von den Titanen zerfleischt ward: es pwa_202.029
konnte also der Dithyrambus sowohl von heiteren Thaten des Gottes pwa_202.030
singen als von Leiden desselben. Es ist wahrscheinlich, wenn schon pwa_202.031
nicht ausgemacht, dass der ernstere Cultus in den dorischen Städten, pwa_202.032
der fröhliche bei den Ioniern, den Aeoliern und unter den Periöken pwa_202.033
der Dorier stattfand. In dieser zwiefachen Richtung des Dithyrambus pwa_202.034
liegt der Zwiespalt von Tragödie und Comödie schon deutlich genug pwa_202.035
vorgebildet und vorbereitet. Dass man sie aber grade so benannte pwa_202.036
und unterschied, ist namentlich für die Tragödie kaum mehr als eine pwa_202.037
blosse Zufälligkeit. Τραγῳδία, Bocksgesang, so konnte man, ehe es pwa_202.038
ein eigentliches Drama gab, jedweden Dithyrambus nennen, und pwa_202.039
nannte auch wirklich jedweden so: denn überall war mit dem feierlichen pwa_202.040
Dionysusdienste ein Bocksopfer verbunden; und noch eine andre pwa_202.041
Sitte, die den zweiten Grund dieses Namens hergiebt, war ursprünglich
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