Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_216.001 pwa_216.014 pwa_216.034 pwa_216.039 pwa_216.001 pwa_216.014 pwa_216.034 pwa_216.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0234" n="216"/><lb n="pwa_216.001"/> der Art die Blume des Agathon, eines Zeitgenossen des Euripides; <lb n="pwa_216.002"/> uns übrigens nur dem Namen nach bekannt. Die Engländer haben <lb n="pwa_216.003"/> dergleichen erst seit dem vorigen Jahrhundert: Shakspeare benutzte <lb n="pwa_216.004"/> für seine Schöpfungen noch keine andere Quelle als Geschichte und <lb n="pwa_216.005"/> Sage. Wir seit Lessing. Gewöhnlich sind es sogenannte <hi rendition="#i">bürgerliche</hi> <lb n="pwa_216.006"/> Trauerspiele: d. h. es treten darin Personen auf aus den niederen <lb n="pwa_216.007"/> Ständen der menschlichen Gesellschaft: Namen von erfundenen Königen <lb n="pwa_216.008"/> und Helden würden zu sehr die Geltung geschichtlicher Wahrheit <lb n="pwa_216.009"/> ansprechen und dadurch den Dichter von vorn herein gar in eine <lb n="pwa_216.010"/> schiefe Stellung versetzen. Das <hi rendition="#i">historische</hi> Trauerspiel dagegen ist <lb n="pwa_216.011"/> natürlich auf Personen der Art angewiesen als diejenigen Puncte, an <lb n="pwa_216.012"/> welche die Geschichte der Menschheit ihre Fäden anzuknüpfen pflegt; <lb n="pwa_216.013"/> deshalb wird die historische Tragödie auch die <hi rendition="#i">heroische</hi> genannt.</p> <p><lb n="pwa_216.014"/> Nun die <hi rendition="#b">Comödie.</hi> Während der Grundton der tragischen Stimmung <lb n="pwa_216.015"/> die Wehmuth ist, ist der Grundton der komischen die Laune: d. h. <lb n="pwa_216.016"/> während bei der Tragödie das Gefühl von seinem Zwiespalt mit der <lb n="pwa_216.017"/> Wirklichkeit schmerzlich berührt wird, setzt es sich in der Comödie leichtsinnig, <lb n="pwa_216.018"/> ja leichtfertig scherzend darüber hinweg; es lässt hier den Stachel <lb n="pwa_216.019"/> nur in so weit an sich kommen, als er kitzelt und zum Lachen reizt. <lb n="pwa_216.020"/> Und in dieser Stellung gegenüber der Wirklichkeit wird das Gefühl <lb n="pwa_216.021"/> gewöhnlich noch unterstützt von dem Verstande, indem auch dieser <lb n="pwa_216.022"/> sein Mass an dieselbe legt und sich auch weiter nicht betrübt, wenn <lb n="pwa_216.023"/> beide nicht recht zu einander stimmen wollen, sondern nur lacht über <lb n="pwa_216.024"/> das Lächerliche und seinen Spott treibt mit der Thorheit. Erst wenn <lb n="pwa_216.025"/> die Laune sich zum Humor, der Spott sich zur Ironie erhebt, erst <lb n="pwa_216.026"/> dann erscheint jener Widerspruch in grösserer Tiefe und Ernstlichkeit: <lb n="pwa_216.027"/> denn nun gesellt sich zu der Laune auch die Wehmuth, und der Spott <lb n="pwa_216.028"/> veredelt sich zu bitterm Zorn und stolzer Verachtung. Aber die Ironie <lb n="pwa_216.029"/> beruht doch immer auf dem Spotte, und der Humor lässt, wie bereits <lb n="pwa_216.030"/> früherhin (S. 204) ist bemerkt worden, in der Comödie die launige Seite <lb n="pwa_216.031"/> vorwalten: das Wehmüthige des Humors wird von ihr übertönt; so dass <lb n="pwa_216.032"/> die wesentliche Grundstimmung dennoch die Laune bleibt, und mit <lb n="pwa_216.033"/> ihr verschwistert der Spott.</p> <p><lb n="pwa_216.034"/> Damit ist nun der Comödie in Bezug auf die Idee eine ganz andere <lb n="pwa_216.035"/> Richtung angewiesen, als die wir bei der Tragödie haben kennen <lb n="pwa_216.036"/> lernen; und die Wirklichkeit, unter deren Formen sie die Idee zur <lb n="pwa_216.037"/> Anschauung bringt, kann demgemäss auch nicht die gleiche sein als <lb n="pwa_216.038"/> die Wirklichkeit der Tragödie.</p> <p><lb n="pwa_216.039"/> Die Comödie geht freilich auch von einer Unzulänglichkeit aus: <lb n="pwa_216.040"/> Gefühl und Verstand widersprechen auch hier der Wirklichkeit, weil <lb n="pwa_216.041"/> sie in ihr etwas Unzulängliches vorfinden: aber sie können den Zwiespalt </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [216/0234]
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der Art die Blume des Agathon, eines Zeitgenossen des Euripides; pwa_216.002
uns übrigens nur dem Namen nach bekannt. Die Engländer haben pwa_216.003
dergleichen erst seit dem vorigen Jahrhundert: Shakspeare benutzte pwa_216.004
für seine Schöpfungen noch keine andere Quelle als Geschichte und pwa_216.005
Sage. Wir seit Lessing. Gewöhnlich sind es sogenannte bürgerliche pwa_216.006
Trauerspiele: d. h. es treten darin Personen auf aus den niederen pwa_216.007
Ständen der menschlichen Gesellschaft: Namen von erfundenen Königen pwa_216.008
und Helden würden zu sehr die Geltung geschichtlicher Wahrheit pwa_216.009
ansprechen und dadurch den Dichter von vorn herein gar in eine pwa_216.010
schiefe Stellung versetzen. Das historische Trauerspiel dagegen ist pwa_216.011
natürlich auf Personen der Art angewiesen als diejenigen Puncte, an pwa_216.012
welche die Geschichte der Menschheit ihre Fäden anzuknüpfen pflegt; pwa_216.013
deshalb wird die historische Tragödie auch die heroische genannt.
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Nun die Comödie. Während der Grundton der tragischen Stimmung pwa_216.015
die Wehmuth ist, ist der Grundton der komischen die Laune: d. h. pwa_216.016
während bei der Tragödie das Gefühl von seinem Zwiespalt mit der pwa_216.017
Wirklichkeit schmerzlich berührt wird, setzt es sich in der Comödie leichtsinnig, pwa_216.018
ja leichtfertig scherzend darüber hinweg; es lässt hier den Stachel pwa_216.019
nur in so weit an sich kommen, als er kitzelt und zum Lachen reizt. pwa_216.020
Und in dieser Stellung gegenüber der Wirklichkeit wird das Gefühl pwa_216.021
gewöhnlich noch unterstützt von dem Verstande, indem auch dieser pwa_216.022
sein Mass an dieselbe legt und sich auch weiter nicht betrübt, wenn pwa_216.023
beide nicht recht zu einander stimmen wollen, sondern nur lacht über pwa_216.024
das Lächerliche und seinen Spott treibt mit der Thorheit. Erst wenn pwa_216.025
die Laune sich zum Humor, der Spott sich zur Ironie erhebt, erst pwa_216.026
dann erscheint jener Widerspruch in grösserer Tiefe und Ernstlichkeit: pwa_216.027
denn nun gesellt sich zu der Laune auch die Wehmuth, und der Spott pwa_216.028
veredelt sich zu bitterm Zorn und stolzer Verachtung. Aber die Ironie pwa_216.029
beruht doch immer auf dem Spotte, und der Humor lässt, wie bereits pwa_216.030
früherhin (S. 204) ist bemerkt worden, in der Comödie die launige Seite pwa_216.031
vorwalten: das Wehmüthige des Humors wird von ihr übertönt; so dass pwa_216.032
die wesentliche Grundstimmung dennoch die Laune bleibt, und mit pwa_216.033
ihr verschwistert der Spott.
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Damit ist nun der Comödie in Bezug auf die Idee eine ganz andere pwa_216.035
Richtung angewiesen, als die wir bei der Tragödie haben kennen pwa_216.036
lernen; und die Wirklichkeit, unter deren Formen sie die Idee zur pwa_216.037
Anschauung bringt, kann demgemäss auch nicht die gleiche sein als pwa_216.038
die Wirklichkeit der Tragödie.
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Die Comödie geht freilich auch von einer Unzulänglichkeit aus: pwa_216.040
Gefühl und Verstand widersprechen auch hier der Wirklichkeit, weil pwa_216.041
sie in ihr etwas Unzulängliches vorfinden: aber sie können den Zwiespalt
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