Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_224.001 pwa_224.007 pwa_224.012 pwa_224.023 pwa_224.001 pwa_224.007 pwa_224.012 pwa_224.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0242" n="224"/><lb n="pwa_224.001"/> dabei verwundern und von der Sache selbst ernsthaft oder höhnisch <lb n="pwa_224.002"/> raisonnieren sollen. Damit nun den Leuten in solcher Verwunderung <lb n="pwa_224.003"/> gleichsam eine Secunde gegeben werde, so wird eine Person darzu <lb n="pwa_224.004"/> genommen, welche gleichsam die Stelle der allgemeinen Satyrischen <lb n="pwa_224.005"/> Inclination vertreten muss. Also trifft es sich unterweilen, dass eine <lb n="pwa_224.006"/> solche Person mitten in der Kurzweil die klügsten Sachen vorbringt.“</p> <p><lb n="pwa_224.007"/> So viel von der Comödie. Jetzt zum Schluss noch Einiges über <lb n="pwa_224.008"/> einzelne Abarten und Ausartungen der dramatischen Poesie, welche <lb n="pwa_224.009"/> nicht mit in den Gegensatz von Tragödie und Comödie zu bringen <lb n="pwa_224.010"/> waren, und über die antiken und modernen Verschmelzungen und <lb n="pwa_224.011"/> Vermischungen dieser beider.</p> <p><lb n="pwa_224.012"/><hi rendition="#b">Schauspiel:</hi> mit dieser eigentlich ganz allgemeinen Benennung <lb n="pwa_224.013"/> bezeichnet man in neuerer Zeit all solche dramatische Dichtungen, die <lb n="pwa_224.014"/> in der Exposition und in der Verwickelung zu ernst aussehen, als <lb n="pwa_224.015"/> dass man sich getrauen möchte sie Comödien, und in der Auflösung <lb n="pwa_224.016"/> wieder zu heiter, als dass man es erlaubt hielte, sie Tragödien zu <lb n="pwa_224.017"/> nennen; nicht selten bedient man sich auch der ebenso allgemeinen <lb n="pwa_224.018"/> Bezeichnung <hi rendition="#i">Drama,</hi> wofür im sechzehnten Jahrhundert, bei Hans <lb n="pwa_224.019"/> Sachs, das Wort <hi rendition="#i">Spiel</hi> gebräuchlich war. Betrachten wir jedoch all <lb n="pwa_224.020"/> die zahlreichen Stücke näher, welche man mit diesen Namen belegt, <lb n="pwa_224.021"/> so werden wir alsbald innerhalb des weiten Raumes, den sie einnehmen, <lb n="pwa_224.022"/> zwei scharf genug bezeichnete Abtheilungen gewahren.</p> <p><lb n="pwa_224.023"/> Ein Theil der sogenannten Schauspiele sind gradezu Trauerspiele, <lb n="pwa_224.024"/> sind Tragödien, nur mit der characteristischen Eigenthümlichkeit, dass <lb n="pwa_224.025"/> die Lösung des tragischen Widerspruchs innerhalb der Handlung selbst <lb n="pwa_224.026"/> erfolgt; dass, um mit Aristoteles zu sprechen, die Reinigung der Furcht <lb n="pwa_224.027"/> und des Mitleidens nicht bloss in uns als ein Ergebniss der Dichtung <lb n="pwa_224.028"/> liegt, sondern dass sich schon innerhalb der Tragödie selbst, und <lb n="pwa_224.029"/> zwar mit der abschliessenden Hauptbegebenheit der Gegensatz zwischen <lb n="pwa_224.030"/> den Bestrebungen der Menschen und der höheren Weltordnung <lb n="pwa_224.031"/> ausgleicht: die Empfindung der Wehmuth, mit welcher wir bis gegen <lb n="pwa_224.032"/> das Ende hin die Handlung begleitet haben, wird noch an diesem <lb n="pwa_224.033"/> Ende selbst und noch vor dem letzten Ende zum Frieden gebracht <lb n="pwa_224.034"/> und getröstet; denn wir erblicken da in einer concreten Bühnenbegebenheit <lb n="pwa_224.035"/> und nicht bloss in unserm Gemüthe den menschlichen Irrthum <lb n="pwa_224.036"/> in das göttliche Recht aufgegangen und den Zwiespalt beider <lb n="pwa_224.037"/> versöhnt und aufgehoben. Die Alten machten zwischen solchen Tragödien <lb n="pwa_224.038"/> und andern, welche mit der herbsten Dissonanz abschliessen <lb n="pwa_224.039"/> und deren Ausgleichung dann dem Zuschauer überlassen, billigerweise <lb n="pwa_224.040"/> keinen Unterschied in der Benennung, hiessen beides Tragödien. <lb n="pwa_224.041"/> Aeschylus nannte die Eumeniden sowohl eine Tragödie als den Agamemnon: </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [224/0242]
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dabei verwundern und von der Sache selbst ernsthaft oder höhnisch pwa_224.002
raisonnieren sollen. Damit nun den Leuten in solcher Verwunderung pwa_224.003
gleichsam eine Secunde gegeben werde, so wird eine Person darzu pwa_224.004
genommen, welche gleichsam die Stelle der allgemeinen Satyrischen pwa_224.005
Inclination vertreten muss. Also trifft es sich unterweilen, dass eine pwa_224.006
solche Person mitten in der Kurzweil die klügsten Sachen vorbringt.“
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So viel von der Comödie. Jetzt zum Schluss noch Einiges über pwa_224.008
einzelne Abarten und Ausartungen der dramatischen Poesie, welche pwa_224.009
nicht mit in den Gegensatz von Tragödie und Comödie zu bringen pwa_224.010
waren, und über die antiken und modernen Verschmelzungen und pwa_224.011
Vermischungen dieser beider.
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Schauspiel: mit dieser eigentlich ganz allgemeinen Benennung pwa_224.013
bezeichnet man in neuerer Zeit all solche dramatische Dichtungen, die pwa_224.014
in der Exposition und in der Verwickelung zu ernst aussehen, als pwa_224.015
dass man sich getrauen möchte sie Comödien, und in der Auflösung pwa_224.016
wieder zu heiter, als dass man es erlaubt hielte, sie Tragödien zu pwa_224.017
nennen; nicht selten bedient man sich auch der ebenso allgemeinen pwa_224.018
Bezeichnung Drama, wofür im sechzehnten Jahrhundert, bei Hans pwa_224.019
Sachs, das Wort Spiel gebräuchlich war. Betrachten wir jedoch all pwa_224.020
die zahlreichen Stücke näher, welche man mit diesen Namen belegt, pwa_224.021
so werden wir alsbald innerhalb des weiten Raumes, den sie einnehmen, pwa_224.022
zwei scharf genug bezeichnete Abtheilungen gewahren.
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Ein Theil der sogenannten Schauspiele sind gradezu Trauerspiele, pwa_224.024
sind Tragödien, nur mit der characteristischen Eigenthümlichkeit, dass pwa_224.025
die Lösung des tragischen Widerspruchs innerhalb der Handlung selbst pwa_224.026
erfolgt; dass, um mit Aristoteles zu sprechen, die Reinigung der Furcht pwa_224.027
und des Mitleidens nicht bloss in uns als ein Ergebniss der Dichtung pwa_224.028
liegt, sondern dass sich schon innerhalb der Tragödie selbst, und pwa_224.029
zwar mit der abschliessenden Hauptbegebenheit der Gegensatz zwischen pwa_224.030
den Bestrebungen der Menschen und der höheren Weltordnung pwa_224.031
ausgleicht: die Empfindung der Wehmuth, mit welcher wir bis gegen pwa_224.032
das Ende hin die Handlung begleitet haben, wird noch an diesem pwa_224.033
Ende selbst und noch vor dem letzten Ende zum Frieden gebracht pwa_224.034
und getröstet; denn wir erblicken da in einer concreten Bühnenbegebenheit pwa_224.035
und nicht bloss in unserm Gemüthe den menschlichen Irrthum pwa_224.036
in das göttliche Recht aufgegangen und den Zwiespalt beider pwa_224.037
versöhnt und aufgehoben. Die Alten machten zwischen solchen Tragödien pwa_224.038
und andern, welche mit der herbsten Dissonanz abschliessen pwa_224.039
und deren Ausgleichung dann dem Zuschauer überlassen, billigerweise pwa_224.040
keinen Unterschied in der Benennung, hiessen beides Tragödien. pwa_224.041
Aeschylus nannte die Eumeniden sowohl eine Tragödie als den Agamemnon:
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