Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_226.001 pwa_226.008 pwa_226.010 pwa_226.001 pwa_226.008 pwa_226.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0244" n="226"/><lb n="pwa_226.001"/> mehr oder weniger, stärker oder schwächer komisch gefärbt <lb n="pwa_226.002"/> sind: Iffland z. B. hat es nicht unterlassen können, es hat ihn so zu <lb n="pwa_226.003"/> sagen das künstlerische Gewissen dazu getrieben, in seine Jäger einige <lb n="pwa_226.004"/> Scenen und Situationen einzuschieben, die durchaus komischer Natur <lb n="pwa_226.005"/> sind; und der Held von Kotzebues Menschenhass und Reue brauchte <lb n="pwa_226.006"/> in Wort und That nur wenig verändert zu werden, um der Held eines <lb n="pwa_226.007"/> eigentlichen Lustspieles zu sein.</p> <p><lb n="pwa_226.008"/> Und damit können wir zu einigen Bemerkungen über die wirkliche <lb n="pwa_226.009"/> Vermischung des Komischen und des Tragischen übergehn.</p> <p><lb n="pwa_226.010"/> Bei den modernen Völkern begegnet uns dergleichen zuerst schon <lb n="pwa_226.011"/> im Mittelalter, als es wohl bereits Tragödien, aber noch keine selbständigen <lb n="pwa_226.012"/> Comödien gab. Da kam es auf, den heiligen Ernst der <lb n="pwa_226.013"/> Passionsdramen mit komischen Situationen und Reden zuerst nur ganz <lb n="pwa_226.014"/> äusserlich und mechanisch zu durchflechten, je mehr und mehr griff <lb n="pwa_226.015"/> diese Einmischung ungebührlich um sich, endlich mit dem Beginn der <lb n="pwa_226.016"/> neuen Zeit gieng daraus, indem das Komische sich selbständig machte, <lb n="pwa_226.017"/> auch eine neue, eigne Form der Kunst, die Comödie, hervor. In <lb n="pwa_226.018"/> Griechenland aber ist eine dem ähnliche Mischung beider Arten wo <lb n="pwa_226.019"/> nicht älter als deren Trennung, doch gewiss schon ebenso alt. Ich meine <lb n="pwa_226.020"/> das <hi rendition="#b">Satyrspiel.</hi> In ihm ward ein Versuch gemacht, den Zwiespalt <lb n="pwa_226.021"/> der beiden Arten des Dithyrambus einigend zu vermitteln, und das <lb n="pwa_226.022"/> geschah vielleicht, noch ehe man dazu gelangte, aus dem ernsthaften <lb n="pwa_226.023"/> die Tragödie, aus dem heiteren die Comödie zu entwickeln. Bekanntlich <lb n="pwa_226.024"/> galt die Blütezeit der griechischen Tragödie hindurch in Athen <lb n="pwa_226.025"/> die Uebung, wenn bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste <lb n="pwa_226.026"/> ein Dichter eine zusammenhangende Dreiheit von Tragödien, eine s. g. <lb n="pwa_226.027"/> Trilogie, vorführte, noch als viertes ein Satyrspiel beizugeben, wodurch <lb n="pwa_226.028"/> die Trilogie zur Tetralogie wurde: das heisst, grade wie man innerhalb <lb n="pwa_226.029"/> der Tragödie dem Volke zu Liebe noch den alten dithyrambischen <lb n="pwa_226.030"/> Chor beibehielt, so liess man auch neben derselben, wenn schon untergeordnet, <lb n="pwa_226.031"/> das alterthümliche Satyrspiel hergehn; das Alte ward aus <lb n="pwa_226.032"/> Rücksichtnahme bewahrt, aber in den Hintergrund geschoben. Es ist <lb n="pwa_226.033"/> zu bedauern, dass von den Satyrspielen des Aeschylus keines mehr <lb n="pwa_226.034"/> vollständig auf uns gelangt ist: bei ihm, der noch am Anfang der <lb n="pwa_226.035"/> ausgebildeten Tragödie steht, und der zugleich als Meister im Satyrspiele <lb n="pwa_226.036"/> gerühmt wird, würde sich gewiss am deutlichsten zeigen, wie <lb n="pwa_226.037"/> beide Dichtungsarten sich unter einander und rückwärts zum Dithyrambus <lb n="pwa_226.038"/> verhalten. So aber besitzen wir überhaupt nur noch ein einziges, <lb n="pwa_226.039"/> und diess grade von der dritten, schon abwärts leitenden Stufe <lb n="pwa_226.040"/> des griechischen Dramas: den Cyclops des Euripides. Indessen so <lb n="pwa_226.041"/> viel sieht man auch aus diesem noch, wie das <foreign xml:lang="grc">ποίημα σατυρικὸν</foreign> eine </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0244]
pwa_226.001
mehr oder weniger, stärker oder schwächer komisch gefärbt pwa_226.002
sind: Iffland z. B. hat es nicht unterlassen können, es hat ihn so zu pwa_226.003
sagen das künstlerische Gewissen dazu getrieben, in seine Jäger einige pwa_226.004
Scenen und Situationen einzuschieben, die durchaus komischer Natur pwa_226.005
sind; und der Held von Kotzebues Menschenhass und Reue brauchte pwa_226.006
in Wort und That nur wenig verändert zu werden, um der Held eines pwa_226.007
eigentlichen Lustspieles zu sein.
pwa_226.008
Und damit können wir zu einigen Bemerkungen über die wirkliche pwa_226.009
Vermischung des Komischen und des Tragischen übergehn.
pwa_226.010
Bei den modernen Völkern begegnet uns dergleichen zuerst schon pwa_226.011
im Mittelalter, als es wohl bereits Tragödien, aber noch keine selbständigen pwa_226.012
Comödien gab. Da kam es auf, den heiligen Ernst der pwa_226.013
Passionsdramen mit komischen Situationen und Reden zuerst nur ganz pwa_226.014
äusserlich und mechanisch zu durchflechten, je mehr und mehr griff pwa_226.015
diese Einmischung ungebührlich um sich, endlich mit dem Beginn der pwa_226.016
neuen Zeit gieng daraus, indem das Komische sich selbständig machte, pwa_226.017
auch eine neue, eigne Form der Kunst, die Comödie, hervor. In pwa_226.018
Griechenland aber ist eine dem ähnliche Mischung beider Arten wo pwa_226.019
nicht älter als deren Trennung, doch gewiss schon ebenso alt. Ich meine pwa_226.020
das Satyrspiel. In ihm ward ein Versuch gemacht, den Zwiespalt pwa_226.021
der beiden Arten des Dithyrambus einigend zu vermitteln, und das pwa_226.022
geschah vielleicht, noch ehe man dazu gelangte, aus dem ernsthaften pwa_226.023
die Tragödie, aus dem heiteren die Comödie zu entwickeln. Bekanntlich pwa_226.024
galt die Blütezeit der griechischen Tragödie hindurch in Athen pwa_226.025
die Uebung, wenn bei den tragischen Wettkämpfen der Dionysusfeste pwa_226.026
ein Dichter eine zusammenhangende Dreiheit von Tragödien, eine s. g. pwa_226.027
Trilogie, vorführte, noch als viertes ein Satyrspiel beizugeben, wodurch pwa_226.028
die Trilogie zur Tetralogie wurde: das heisst, grade wie man innerhalb pwa_226.029
der Tragödie dem Volke zu Liebe noch den alten dithyrambischen pwa_226.030
Chor beibehielt, so liess man auch neben derselben, wenn schon untergeordnet, pwa_226.031
das alterthümliche Satyrspiel hergehn; das Alte ward aus pwa_226.032
Rücksichtnahme bewahrt, aber in den Hintergrund geschoben. Es ist pwa_226.033
zu bedauern, dass von den Satyrspielen des Aeschylus keines mehr pwa_226.034
vollständig auf uns gelangt ist: bei ihm, der noch am Anfang der pwa_226.035
ausgebildeten Tragödie steht, und der zugleich als Meister im Satyrspiele pwa_226.036
gerühmt wird, würde sich gewiss am deutlichsten zeigen, wie pwa_226.037
beide Dichtungsarten sich unter einander und rückwärts zum Dithyrambus pwa_226.038
verhalten. So aber besitzen wir überhaupt nur noch ein einziges, pwa_226.039
und diess grade von der dritten, schon abwärts leitenden Stufe pwa_226.040
des griechischen Dramas: den Cyclops des Euripides. Indessen so pwa_226.041
viel sieht man auch aus diesem noch, wie das ποίημα σατυρικὸν eine
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |