Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_229.001 pwa_229.011 pwa_229.031 pwa_229.001 pwa_229.011 pwa_229.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0247" n="229"/><lb n="pwa_229.001"/> Italien blieb noch eine Erinnerung an den alten Zusammenhang der <lb n="pwa_229.002"/> Kunst des Wortes und der Kunst des Tones, und ein Bedürfniss, <lb n="pwa_229.003"/> diesen Zusammenhang nicht gänzlich fallen zu lassen. Zwar gab es <lb n="pwa_229.004"/> auch da Tragödien und Comödien ohne Musik, ohne Gesang und <lb n="pwa_229.005"/> Tanz; aber daneben verlegte man sich mit allem Fleiss und Eifer <lb n="pwa_229.006"/> auch noch auf Dramen mit Musik und Tanz, auf Tragödien, die gänzlich, <lb n="pwa_229.007"/> auf Comödien, die zum grösseren Theil für den musikalischen <lb n="pwa_229.008"/> Vortrag bestimmt waren: kurz auf Singspiele, auf <hi rendition="#b">Opern</hi> und <hi rendition="#b">Operetten</hi> <lb n="pwa_229.009"/> (<hi rendition="#i">opera</hi> s. v. a. <foreign xml:lang="grc">δρᾶμα</foreign>). Von Italien aus hat sich dann das Singspiel <lb n="pwa_229.010"/> nach und nach auch in das übrige Europa verbreitet.</p> <p><lb n="pwa_229.011"/> Weil nun aber diese musikalischen Dramen einmal in einer Art <lb n="pwa_229.012"/> von Gegensatz stehn zu den unmusikalischen, so ist es in ihnen auch <lb n="pwa_229.013"/> zu einer ganz anderen Behandlung des dramatischen Stoffes gekommen. <lb n="pwa_229.014"/> Im antiken Drama war die Musik der Poesie höchstens nebengeordnet, <lb n="pwa_229.015"/> wo nicht untergeordnet: in der Oper macht sich jene zur Hauptsache, <lb n="pwa_229.016"/> zur Herrin; die Poesie dient ihr nur noch; bei der ganzen Disposition <lb n="pwa_229.017"/> des Stoffes werden vor allen Dingen die Bedürfnisse und der Vortheil <lb n="pwa_229.018"/> der Musik ins Auge gefasst, und auch bei der weiteren Ausführung <lb n="pwa_229.019"/> sollen die Worte eben nur eine nothdürftige Grundlage sein für die <lb n="pwa_229.020"/> Pracht und Zierlichkeit des musikalischen Gebäudes. Eine nothwendige <lb n="pwa_229.021"/> Folge dieses Verhältnisses ist, dass die Oper überall einen viel <lb n="pwa_229.022"/> lyrischeren Character hat; dass sich hier das Drama beinahe gar zu <lb n="pwa_229.023"/> deutlich zergliedert in eine nur obenhin episch angeordnete Reihe von <lb n="pwa_229.024"/> lyrischen Zuständen; dass die aneinandergereihten Situationen zwar <lb n="pwa_229.025"/> den Agierenden jedesmal zu dem vollsten musikalischen Ausdruck <lb n="pwa_229.026"/> ihrer Empfindung Gelegenheit geben, ihr dichterischer Zusammenhang <lb n="pwa_229.027"/> aber ein höchst lockerer, ihr dramatischer Verlauf nur leicht und <lb n="pwa_229.028"/> oberflächlich skizziert ist; es bewährt sich darin die natürliche Verbindung, <lb n="pwa_229.029"/> die zwischen der lyrischen Poesie und einer kunstmässigeren <lb n="pwa_229.030"/> Musik besteht.</p> <p><lb n="pwa_229.031"/> Eine andere Folge, die zwar nicht grade so nothwendig ist, aber <lb n="pwa_229.032"/> doch als schwer vermeidbar gewöhnlich eintritt, ist die Kunstlosigkeit der <lb n="pwa_229.033"/> Operntexte, das Unpoetische des poetischen Theiles. Dichter und Musiker <lb n="pwa_229.034"/> werden, wenn jeder etwas Rechtes leisten will, einander meist unbequem: <lb n="pwa_229.035"/> den Dichter beengt die Suprematie, die der Componist anspricht; <lb n="pwa_229.036"/> der Componist will nichts wissen von der Nebenbuhlerschaft des Dichters. <lb n="pwa_229.037"/> Und so mögen sich nur solche zu Operndichtern hergeben, und <lb n="pwa_229.038"/> die Componisten wollen auch nur solche, die eben nicht viel von <lb n="pwa_229.039"/> Poesie in sich tragen. Grade bei den vorzüglichsten Opern darf man <lb n="pwa_229.040"/> auf den Text nur ja nicht achten: er wird immer der leerste und <lb n="pwa_229.041"/> albernste sein: ich erinnere des Beispiels wegen nur an die Zauberflöte; </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [229/0247]
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Italien blieb noch eine Erinnerung an den alten Zusammenhang der pwa_229.002
Kunst des Wortes und der Kunst des Tones, und ein Bedürfniss, pwa_229.003
diesen Zusammenhang nicht gänzlich fallen zu lassen. Zwar gab es pwa_229.004
auch da Tragödien und Comödien ohne Musik, ohne Gesang und pwa_229.005
Tanz; aber daneben verlegte man sich mit allem Fleiss und Eifer pwa_229.006
auch noch auf Dramen mit Musik und Tanz, auf Tragödien, die gänzlich, pwa_229.007
auf Comödien, die zum grösseren Theil für den musikalischen pwa_229.008
Vortrag bestimmt waren: kurz auf Singspiele, auf Opern und Operetten pwa_229.009
(opera s. v. a. δρᾶμα). Von Italien aus hat sich dann das Singspiel pwa_229.010
nach und nach auch in das übrige Europa verbreitet.
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Weil nun aber diese musikalischen Dramen einmal in einer Art pwa_229.012
von Gegensatz stehn zu den unmusikalischen, so ist es in ihnen auch pwa_229.013
zu einer ganz anderen Behandlung des dramatischen Stoffes gekommen. pwa_229.014
Im antiken Drama war die Musik der Poesie höchstens nebengeordnet, pwa_229.015
wo nicht untergeordnet: in der Oper macht sich jene zur Hauptsache, pwa_229.016
zur Herrin; die Poesie dient ihr nur noch; bei der ganzen Disposition pwa_229.017
des Stoffes werden vor allen Dingen die Bedürfnisse und der Vortheil pwa_229.018
der Musik ins Auge gefasst, und auch bei der weiteren Ausführung pwa_229.019
sollen die Worte eben nur eine nothdürftige Grundlage sein für die pwa_229.020
Pracht und Zierlichkeit des musikalischen Gebäudes. Eine nothwendige pwa_229.021
Folge dieses Verhältnisses ist, dass die Oper überall einen viel pwa_229.022
lyrischeren Character hat; dass sich hier das Drama beinahe gar zu pwa_229.023
deutlich zergliedert in eine nur obenhin episch angeordnete Reihe von pwa_229.024
lyrischen Zuständen; dass die aneinandergereihten Situationen zwar pwa_229.025
den Agierenden jedesmal zu dem vollsten musikalischen Ausdruck pwa_229.026
ihrer Empfindung Gelegenheit geben, ihr dichterischer Zusammenhang pwa_229.027
aber ein höchst lockerer, ihr dramatischer Verlauf nur leicht und pwa_229.028
oberflächlich skizziert ist; es bewährt sich darin die natürliche Verbindung, pwa_229.029
die zwischen der lyrischen Poesie und einer kunstmässigeren pwa_229.030
Musik besteht.
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Eine andere Folge, die zwar nicht grade so nothwendig ist, aber pwa_229.032
doch als schwer vermeidbar gewöhnlich eintritt, ist die Kunstlosigkeit der pwa_229.033
Operntexte, das Unpoetische des poetischen Theiles. Dichter und Musiker pwa_229.034
werden, wenn jeder etwas Rechtes leisten will, einander meist unbequem: pwa_229.035
den Dichter beengt die Suprematie, die der Componist anspricht; pwa_229.036
der Componist will nichts wissen von der Nebenbuhlerschaft des Dichters. pwa_229.037
Und so mögen sich nur solche zu Operndichtern hergeben, und pwa_229.038
die Componisten wollen auch nur solche, die eben nicht viel von pwa_229.039
Poesie in sich tragen. Grade bei den vorzüglichsten Opern darf man pwa_229.040
auf den Text nur ja nicht achten: er wird immer der leerste und pwa_229.041
albernste sein: ich erinnere des Beispiels wegen nur an die Zauberflöte;
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