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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Epopöien, sondern auch in den selbständigeren Originalschöpfungen, die pwa_251.002
zunächst auf sie folgten: auch diese lehnten sich immer an die volksmässigen, pwa_251.003
sagenhaften Ueberlieferungen: so im sechzehnten Jahrhundert pwa_251.004
der an Riesensagen Südfrankreichs sich anlehnende Roman Gargantua, pwa_251.005
den französisch zuerst Rabelais und nach ihm dann Fischart pwa_251.006
deutsch bearbeitete; ebenso auch der Eulenspiegel und der Schwarzkünstler pwa_251.007
Johannes Faust: beides sind historische Personen, aber umgestaltet pwa_251.008
von der ausschmückenden Hand der Sage. Indessen war doch pwa_251.009
das Epos nur darum untergegangen und hatte sich nur darum in die pwa_251.010
prosaische Form flüchten müssen, weil diejenige poetische Stimmung, pwa_251.011
auf welcher allein die Sage fussen kann, vom Volke gewichen war. pwa_251.012
Da konnte denn auch der Roman nicht länger sagenhaft bleiben, und pwa_251.013
es ward ein Vorrecht dieser neueren prosaischen Epiker vor den früheren pwa_251.014
poetischen, dass ihnen freie und willkürliche Erfindung gestattet pwa_251.015
ist. So willkürliche aber doch nicht, dass die Wirklichkeit, in deren pwa_251.016
Form der Romanschreiber seine Anschauungen kleidet, ganz frei und pwa_251.017
ohne Halt in der Luft schweben dürfte; sie muss immer noch einen pwa_251.018
Anschein von historischem Grund und Boden haben. Dieser historische pwa_251.019
Anschein kann aber von doppelter Art sein. Entweder erfindet der pwa_251.020
Verfasser Alles, alle Personen und alle Begebenheiten, und giebt ihnen pwa_251.021
nur im Allgemeinen eine historische Farbe, ein historisches Costüm, pwa_251.022
verleiht ihnen nur den Localton einer gewissen Zeit und eines bestimmten pwa_251.023
Landes. Diess Costüm ist sehr der Mode unterworfen: jetzt meistens pwa_251.024
gilt die jetzige Zeit, vor einem halben Jahrhundert galt der scandinavische pwa_251.025
Norden, noch früher die Zeit der Kreuzzüge, des Faustrechtes, pwa_251.026
der heiligen Vehme, und wie es sonst noch beliebt ward das Mittelalter pwa_251.027
unheimlich zu betiteln, noch früher, wie in den Schäferromanen pwa_251.028
Salomon Gessners, jenes allerdings mehr geträumte, als historisch pwa_251.029
gewusste halbgoldene Zeitalter der Hirten und Hirtinnen in Arcadien. pwa_251.030
Oder aber man giebt dem Roman gradezu einen wirklich historischen pwa_251.031
Hintergrund und füllt und vertieft diesen Hintergrund mehr oder weniger; pwa_251.032
man erfindet zwar die hauptsächlichen Personen und die hauptsächlichen pwa_251.033
Begebenheiten des Vordergrundes, aber man verflicht sie pwa_251.034
mit historisch gegebenen und in der wirklichen Geschichte bedeutsamen, pwa_251.035
mögen diese auch in dem Romane minder bedeutsam eingreifen. pwa_251.036
Solche halbhistorische Romane sind in England durch Walter Scott auf pwa_251.037
die Bahn gebracht worden; sie fanden zahlreiche deutsche Nachahmer, pwa_251.038
deren einige mit besonderem Beifall aufgenommen wurden. Man kann pwa_251.039
auch nicht läugnen, dass diess halbgeschichtliche Verfahren die Anschaulichkeit pwa_251.040
um ein Beträchtliches fördert, und man mag, wenn man günstig pwa_251.041
urtheilen will, in dem grossen Beifall, den solche Romane gefunden

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Epopöien, sondern auch in den selbständigeren Originalschöpfungen, die pwa_251.002
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auf welcher allein die Sage fussen kann, vom Volke gewichen war. pwa_251.012
Da konnte denn auch der Roman nicht länger sagenhaft bleiben, und pwa_251.013
es ward ein Vorrecht dieser neueren prosaischen Epiker vor den früheren pwa_251.014
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ohne Halt in der Luft schweben dürfte; sie muss immer noch einen pwa_251.018
Anschein von historischem Grund und Boden haben. Dieser historische pwa_251.019
Anschein kann aber von doppelter Art sein. Entweder erfindet der pwa_251.020
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/269>, abgerufen am 22.11.2024.