Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_250.001 pwa_250.003 pwa_250.005 pwa_250.019 pwa_250.033 pwa_250.001 pwa_250.003 pwa_250.005 pwa_250.019 pwa_250.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0268" n="250"/><lb n="pwa_250.001"/> wie das beobachtet ist, zeigt z. B. die Biographie Wilhelm Heinses <lb n="pwa_250.002"/> (LB. 3, 2, 1507).</p> <p><lb n="pwa_250.003"/> So viel von der Geschichtsschreibung; nun wenden wir uns zur <lb n="pwa_250.004"/> zweiten Art der erzählenden Prosa, zum <hi rendition="#b">Roman.</hi></p> <p><lb n="pwa_250.005"/> Die Prosa des Romans liegt dem Epos um viele Schritte näher <lb n="pwa_250.006"/> als die Prosa der Geschichtsschreibung, ja sie liegt eigentlich dicht <lb n="pwa_250.007"/> neben ihm. Wir haben auch gesehen, wie der Roman ganz unmittelbar <lb n="pwa_250.008"/> aus dem Epos hervorgegangen, wie er ursprünglich nichts mehr und <lb n="pwa_250.009"/> nichts weniger gewesen sei, als eine blosse Auflösung und Uebersetzung <lb n="pwa_250.010"/> epischer Poesie in Prosa. Eigentlich bedeutet auch der Name Roman <lb n="pwa_250.011"/> gleich dem Worte Romanze (S. 98) so viel als ein erzählendes Gedicht, <lb n="pwa_250.012"/> abgefasst in der romanischen Volkssprache. Und so sind denn auch <lb n="pwa_250.013"/> die Unterschiede, die sich nach und nach zwischen Epos und Roman <lb n="pwa_250.014"/> ausgebildet haben, zum Theil mehr veranlasst worden durch die einmal <lb n="pwa_250.015"/> erwählte prosaische Form, als sie eigentlich begründet waren in <lb n="pwa_250.016"/> einem ursprünglich eigenthümlichen Wesen des Romans. Wir wollen <lb n="pwa_250.017"/> nun sowohl die Uebereinstimmungen als die Unterschiede zu erörtern <lb n="pwa_250.018"/> suchen.</p> <p><lb n="pwa_250.019"/> Haupt- und Grundgesetz für den Roman wie für das Epos ist <lb n="pwa_250.020"/> die Einheit, die Einheit in all ihren Abzweigungen und Spiegelungen: <lb n="pwa_250.021"/> Einheit der Idee, Einheit des Verlaufes der Thatsachen, und worin <lb n="pwa_250.022"/> sich diese vorzüglich kund thun wird, Einheit der Hauptperson und <lb n="pwa_250.023"/> Einheit der Hauptbegebenheit, als des Punctes, in welchem alle etwa <lb n="pwa_250.024"/> zerstreuten Radien des Verlaufes der Thatsachen sich zuletzt doch <lb n="pwa_250.025"/> wieder vereinigen. Denn der Verlauf braucht sich hier so wenig als <lb n="pwa_250.026"/> im Epos gradlinig zu entwickeln; ja der Roman liebt, wie die ausgebildete <lb n="pwa_250.027"/> Epopöie, eine kunstreiche Verschlingung, er liebt Episoden, <lb n="pwa_250.028"/> wenn nur der leitende Hauptfaden darüber nicht verloren geht. Die <lb n="pwa_250.029"/> Odyssee bei ihrem Wechsel der Personen und des Locales und bei <lb n="pwa_250.030"/> ihrer episodischen Gliederung würde einen vollkommneren Roman abgeben <lb n="pwa_250.031"/> als die Iliade in ihrem zwar einfachen, aber doch nicht recht einheitlichen <lb n="pwa_250.032"/> Verlaufe.</p> <p><lb n="pwa_250.033"/> Die Wirklichkeit nun, die in solcher Weise vielgliedrig entfaltet <lb n="pwa_250.034"/> und zugleich durch jene Einheiten wieder zusammengehalten wird, <lb n="pwa_250.035"/> braucht, wie der Roman sich einmal ausgebildet hat, nicht in solcher <lb n="pwa_250.036"/> Weise historisch zu sein, als das vom Epos gefordert wird. Das Epos <lb n="pwa_250.037"/> verlangt jedesmal, wie das früher umständlich ist dargethan worden, <lb n="pwa_250.038"/> einen sagenhaften Stoff: es muss immer entweder Sagen vortragen, oder <lb n="pwa_250.039"/> wenn auch wahrhafte Geschichte, dann diese doch aufgefasst in Art <lb n="pwa_250.040"/> der Sage. Ebenso war es nun freilich auch in den ältesten Romanen: <lb n="pwa_250.041"/> nicht bloss in denen, die nur prosaische Auflösung waren von älteren </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [250/0268]
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wie das beobachtet ist, zeigt z. B. die Biographie Wilhelm Heinses pwa_250.002
(LB. 3, 2, 1507).
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So viel von der Geschichtsschreibung; nun wenden wir uns zur pwa_250.004
zweiten Art der erzählenden Prosa, zum Roman.
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Die Prosa des Romans liegt dem Epos um viele Schritte näher pwa_250.006
als die Prosa der Geschichtsschreibung, ja sie liegt eigentlich dicht pwa_250.007
neben ihm. Wir haben auch gesehen, wie der Roman ganz unmittelbar pwa_250.008
aus dem Epos hervorgegangen, wie er ursprünglich nichts mehr und pwa_250.009
nichts weniger gewesen sei, als eine blosse Auflösung und Uebersetzung pwa_250.010
epischer Poesie in Prosa. Eigentlich bedeutet auch der Name Roman pwa_250.011
gleich dem Worte Romanze (S. 98) so viel als ein erzählendes Gedicht, pwa_250.012
abgefasst in der romanischen Volkssprache. Und so sind denn auch pwa_250.013
die Unterschiede, die sich nach und nach zwischen Epos und Roman pwa_250.014
ausgebildet haben, zum Theil mehr veranlasst worden durch die einmal pwa_250.015
erwählte prosaische Form, als sie eigentlich begründet waren in pwa_250.016
einem ursprünglich eigenthümlichen Wesen des Romans. Wir wollen pwa_250.017
nun sowohl die Uebereinstimmungen als die Unterschiede zu erörtern pwa_250.018
suchen.
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Haupt- und Grundgesetz für den Roman wie für das Epos ist pwa_250.020
die Einheit, die Einheit in all ihren Abzweigungen und Spiegelungen: pwa_250.021
Einheit der Idee, Einheit des Verlaufes der Thatsachen, und worin pwa_250.022
sich diese vorzüglich kund thun wird, Einheit der Hauptperson und pwa_250.023
Einheit der Hauptbegebenheit, als des Punctes, in welchem alle etwa pwa_250.024
zerstreuten Radien des Verlaufes der Thatsachen sich zuletzt doch pwa_250.025
wieder vereinigen. Denn der Verlauf braucht sich hier so wenig als pwa_250.026
im Epos gradlinig zu entwickeln; ja der Roman liebt, wie die ausgebildete pwa_250.027
Epopöie, eine kunstreiche Verschlingung, er liebt Episoden, pwa_250.028
wenn nur der leitende Hauptfaden darüber nicht verloren geht. Die pwa_250.029
Odyssee bei ihrem Wechsel der Personen und des Locales und bei pwa_250.030
ihrer episodischen Gliederung würde einen vollkommneren Roman abgeben pwa_250.031
als die Iliade in ihrem zwar einfachen, aber doch nicht recht einheitlichen pwa_250.032
Verlaufe.
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Die Wirklichkeit nun, die in solcher Weise vielgliedrig entfaltet pwa_250.034
und zugleich durch jene Einheiten wieder zusammengehalten wird, pwa_250.035
braucht, wie der Roman sich einmal ausgebildet hat, nicht in solcher pwa_250.036
Weise historisch zu sein, als das vom Epos gefordert wird. Das Epos pwa_250.037
verlangt jedesmal, wie das früher umständlich ist dargethan worden, pwa_250.038
einen sagenhaften Stoff: es muss immer entweder Sagen vortragen, oder pwa_250.039
wenn auch wahrhafte Geschichte, dann diese doch aufgefasst in Art pwa_250.040
der Sage. Ebenso war es nun freilich auch in den ältesten Romanen: pwa_250.041
nicht bloss in denen, die nur prosaische Auflösung waren von älteren
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