Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_255.001 pwa_255.003 pwa_255.026 pwa_255.030 pwa_255.001 pwa_255.003 pwa_255.026 pwa_255.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0273" n="255"/><lb n="pwa_255.001"/> wiederholten Anstoss als der Humor, das wehmüthige Lächeln des <lb n="pwa_255.002"/> Gemüthes.</p> <p><lb n="pwa_255.003"/> In den satirischen Romanen macht sich der Verstand in höherem <lb n="pwa_255.004"/> Grade geltend, als ihm das jemals in einer Epopöie würde verstattet sein. <lb n="pwa_255.005"/> Gleichwohl macht er sich niemals so ausschliesslich geltend, dass nicht <lb n="pwa_255.006"/> auch das Gefühl mit seiner Laune hineinspielen sollte. Und so ist auch <lb n="pwa_255.007"/> hier dem Roman immer noch in prosaischer Form ein poetischer Gehalt <lb n="pwa_255.008"/> gesichert. Erst in den eigentlich didactischen Romanen sehen wir alle <lb n="pwa_255.009"/> Poesie gänzlich bei Seite geschoben, in solchen Romanen, mit denen <lb n="pwa_255.010"/> es ganz eigentlich nur auf Belehrung des Verstandes abgesehen ist, <lb n="pwa_255.011"/> in denen eine geschichtliche Wirklichkeit nur darum erzählt wird, um <lb n="pwa_255.012"/> damit irgend eine philosophische oder moralische oder politische Tendenz <lb n="pwa_255.013"/> oder dergleichen in lehrhafter Weise zu verfolgen. In solchen <lb n="pwa_255.014"/> Romanen (Deutschland ist zu allen Zeiten reich daran gewesen, im <lb n="pwa_255.015"/> siebzehnten wie im achtzehnten Jahrhundert: ich erinnere an Friedrich <lb n="pwa_255.016"/> Heinrich Jacobis Woldemar) hat die prosaische Form über das epische <lb n="pwa_255.017"/> und poetische Wesen einen vollständigen Sieg davon getragen: denn die <lb n="pwa_255.018"/> Einbildung ist hier ganz zur Dienerin des Verstandes, die angeschaute <lb n="pwa_255.019"/> Wirklichkeit ganz zum blossen Werkzeug ihrer Lehren herabgesetzt. <lb n="pwa_255.020"/> Gewonnen hat man damit nicht viel, so wenig als mit dem didactischen <lb n="pwa_255.021"/> Epos. Im didactischen Epos erscheint das didactische Element nur unpasslich <lb n="pwa_255.022"/> für die poetische Darstellung, und im didactischen Romane das <lb n="pwa_255.023"/> epische Element unpasslich für die prosaische; einem didactischen Epiker <lb n="pwa_255.024"/> möchte man am liebsten die Lehre, einem didactischen Romanschreiber <lb n="pwa_255.025"/> am liebsten die epische Wirklichkeit schenken, an welcher er lehrt.</p> <p><lb n="pwa_255.026"/> Es giebt nun noch eine oder zwei Unterarten vom Roman, die <lb n="pwa_255.027"/> sich zu dem, was gewöhnlich Roman heisst, ziemlich ebenso verhalten, <lb n="pwa_255.028"/> wie die poetische Erzählung zur Epopöie. Es sind das die <hi rendition="#b">Erzählung</hi> <lb n="pwa_255.029"/> (der Ausdruck wiederholt sich) und die <hi rendition="#b">Novelle.</hi></p> <p><lb n="pwa_255.030"/> Wir hatten früherhin (S. 79. 91) die poetische Erzählung darin von <lb n="pwa_255.031"/> der Epopöie unterschieden gefunden, dass jener ein kleinerer Umfang, <lb n="pwa_255.032"/> eine geringere Verwickelung, ein leichterer Inhalt eigen ist, dass ihre <lb n="pwa_255.033"/> epische Wirklichkeit keine sagenhafte zu sein braucht und sogar erst <lb n="pwa_255.034"/> vom Dichter erfunden sein kann, dass sie endlich deshalb Laune und <lb n="pwa_255.035"/> Spott beinahe mit Vorliebe in sich aufnimmt. So vielseitig ausgebildet <lb n="pwa_255.036"/> ist nun freilich der Unterschied zwischen der prosaischen Erzählung <lb n="pwa_255.037"/> und dem Romane nicht. Denn schon der Roman bedarf keines sagenhaften <lb n="pwa_255.038"/> Bodens, er kann aus Anschauungen der Gegenwart und aus <lb n="pwa_255.039"/> einer frei schöpfenden und erfindenden Phantasie hervorgehn, und Spott <lb n="pwa_255.040"/> und Laune, Ironie und Humor können auch seine Darstellung von <lb n="pwa_255.041"/> Anfang bis zu Ende begleiten. Es bleibt daher nur dieser eine Umstand, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [255/0273]
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wiederholten Anstoss als der Humor, das wehmüthige Lächeln des pwa_255.002
Gemüthes.
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In den satirischen Romanen macht sich der Verstand in höherem pwa_255.004
Grade geltend, als ihm das jemals in einer Epopöie würde verstattet sein. pwa_255.005
Gleichwohl macht er sich niemals so ausschliesslich geltend, dass nicht pwa_255.006
auch das Gefühl mit seiner Laune hineinspielen sollte. Und so ist auch pwa_255.007
hier dem Roman immer noch in prosaischer Form ein poetischer Gehalt pwa_255.008
gesichert. Erst in den eigentlich didactischen Romanen sehen wir alle pwa_255.009
Poesie gänzlich bei Seite geschoben, in solchen Romanen, mit denen pwa_255.010
es ganz eigentlich nur auf Belehrung des Verstandes abgesehen ist, pwa_255.011
in denen eine geschichtliche Wirklichkeit nur darum erzählt wird, um pwa_255.012
damit irgend eine philosophische oder moralische oder politische Tendenz pwa_255.013
oder dergleichen in lehrhafter Weise zu verfolgen. In solchen pwa_255.014
Romanen (Deutschland ist zu allen Zeiten reich daran gewesen, im pwa_255.015
siebzehnten wie im achtzehnten Jahrhundert: ich erinnere an Friedrich pwa_255.016
Heinrich Jacobis Woldemar) hat die prosaische Form über das epische pwa_255.017
und poetische Wesen einen vollständigen Sieg davon getragen: denn die pwa_255.018
Einbildung ist hier ganz zur Dienerin des Verstandes, die angeschaute pwa_255.019
Wirklichkeit ganz zum blossen Werkzeug ihrer Lehren herabgesetzt. pwa_255.020
Gewonnen hat man damit nicht viel, so wenig als mit dem didactischen pwa_255.021
Epos. Im didactischen Epos erscheint das didactische Element nur unpasslich pwa_255.022
für die poetische Darstellung, und im didactischen Romane das pwa_255.023
epische Element unpasslich für die prosaische; einem didactischen Epiker pwa_255.024
möchte man am liebsten die Lehre, einem didactischen Romanschreiber pwa_255.025
am liebsten die epische Wirklichkeit schenken, an welcher er lehrt.
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Es giebt nun noch eine oder zwei Unterarten vom Roman, die pwa_255.027
sich zu dem, was gewöhnlich Roman heisst, ziemlich ebenso verhalten, pwa_255.028
wie die poetische Erzählung zur Epopöie. Es sind das die Erzählung pwa_255.029
(der Ausdruck wiederholt sich) und die Novelle.
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Wir hatten früherhin (S. 79. 91) die poetische Erzählung darin von pwa_255.031
der Epopöie unterschieden gefunden, dass jener ein kleinerer Umfang, pwa_255.032
eine geringere Verwickelung, ein leichterer Inhalt eigen ist, dass ihre pwa_255.033
epische Wirklichkeit keine sagenhafte zu sein braucht und sogar erst pwa_255.034
vom Dichter erfunden sein kann, dass sie endlich deshalb Laune und pwa_255.035
Spott beinahe mit Vorliebe in sich aufnimmt. So vielseitig ausgebildet pwa_255.036
ist nun freilich der Unterschied zwischen der prosaischen Erzählung pwa_255.037
und dem Romane nicht. Denn schon der Roman bedarf keines sagenhaften pwa_255.038
Bodens, er kann aus Anschauungen der Gegenwart und aus pwa_255.039
einer frei schöpfenden und erfindenden Phantasie hervorgehn, und Spott pwa_255.040
und Laune, Ironie und Humor können auch seine Darstellung von pwa_255.041
Anfang bis zu Ende begleiten. Es bleibt daher nur dieser eine Umstand,
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