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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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dass die prosaische Erzählung in sich einfacher und minder pwa_256.002
verwickelt und von geringerem Umfange sei als der Roman. Und pwa_256.003
damit ist allerdings keine sonderlich scharfe Trennungslinie gezogen: pwa_256.004
denn verschiedene Personen und Zeiten haben für das Mehr oder Minder pwa_256.005
der Verwickelung und Ausdehnung auch einen verschiedenen Massstab. pwa_256.006
Zudem halten auch Verwickelung und Ausdehnung nicht immer gleichen pwa_256.007
Schritt: es giebt erzählende Prosawerke, die in sich so kurz sind, äusserlich pwa_256.008
aber so lang und breit, dass man sie aus dem einen Grunde Erzählungen pwa_256.009
nennen könnte und aus dem anderen Romane: so die humoristischen pwa_256.010
Erzählungen Jean Pauls; und umgekehrt liegt nicht selten pwa_256.011
in dem geringsten Umfange, wie ihn nur die sogenannten Erzählungen pwa_256.012
haben, eine Fülle des Inhalts, die für den weitläuftigsten Roman hinreichen pwa_256.013
würde: Beispiel die Novellen des Cervantes. Daher herrscht pwa_256.014
denn auch unter den Schriftstellern wie im Publicum eine beständige pwa_256.015
Unsicherheit im Gebrauche dieser Namen.

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Gebräuchlicher übrigens als die Benennung Erzählung ist eine pwa_256.017
von den Italiänern und Spaniern entlehnte, Novelle (novella, novela). pwa_256.018
Und nicht selten wird in der Theorie wie in der Praxis ein Unterschied pwa_256.019
zwischen beiden gemacht. In folgender Weise. Eine Erzählung, pwa_256.020
welche ruhig vorwärts schreitet, den Verlauf der Begebenheiten beim pwa_256.021
allerersten Anfange beginnt und ihn in möglichst gradem Gange bis zum pwa_256.022
letzten Ende vollständig ausführt, eine solche gänzlich und rein epische pwa_256.023
Erzählung nennt man dann auch eine Erzählung. Nimmt dagegen die pwa_256.024
Darstellung einen mehr dramatisch bewegten Character an, verweilt pwa_256.025
sie nur bei den bedeutsameren und wichtigeren Situationen, zeigt sie pwa_256.026
ihren Helden gleich beim ersten Auftreten so, dass er durch Handeln pwa_256.027
und Leiden eine volle und gespannte Theilnahme in Anspruch nimmt, pwa_256.028
und bricht sie ab, wenn das Wesentliche geschehen und vollbracht pwa_256.029
ist, so dass sich der Leser das Minderwesentliche, das noch übrig pwa_256.030
bleibt, in eigenen Gedanken hinzu ergänzen kann: ist die Erzählung pwa_256.031
so beschaffen, so heisst sie eine Novelle. Eine Erzählung wird also pwa_256.032
z. B. damit beginnen, dass der Held von Vater und Mutter Abschied pwa_256.033
nimmt und in die Fremde zieht, und wird endigen mit dem Gastmal pwa_256.034
und dem Tanz bei seiner Hochzeit; eine Novelle dagegen zeigt ihn, pwa_256.035
sowie sie anhebt, etwa gleich mitten in der Wanderung, weit fort pwa_256.036
in der Fremde, gleich in allerlei Reiseabenteuern, und sie ist schon pwa_256.037
fertig, sowie jeder sieht, dass es zu einer Hochzeit kommen müsse, pwa_256.038
aber bis zur Hochzeit selbst geht sie grade nicht fort. Dieser Unterschied pwa_256.039
wäre ganz gut, und man müsste ihn billigen, wenn er nur pwa_256.040
durchzuführen wäre. Aber so scharf sondern sich die beiden Arten pwa_256.041
der Darstellung nicht überall; man bedürfte dann eigentlich noch einiger

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dass die prosaische Erzählung in sich einfacher und minder pwa_256.002
verwickelt und von geringerem Umfange sei als der Roman. Und pwa_256.003
damit ist allerdings keine sonderlich scharfe Trennungslinie gezogen: pwa_256.004
denn verschiedene Personen und Zeiten haben für das Mehr oder Minder pwa_256.005
der Verwickelung und Ausdehnung auch einen verschiedenen Massstab. pwa_256.006
Zudem halten auch Verwickelung und Ausdehnung nicht immer gleichen pwa_256.007
Schritt: es giebt erzählende Prosawerke, die in sich so kurz sind, äusserlich pwa_256.008
aber so lang und breit, dass man sie aus dem einen Grunde Erzählungen pwa_256.009
nennen könnte und aus dem anderen Romane: so die humoristischen pwa_256.010
Erzählungen Jean Pauls; und umgekehrt liegt nicht selten pwa_256.011
in dem geringsten Umfange, wie ihn nur die sogenannten Erzählungen pwa_256.012
haben, eine Fülle des Inhalts, die für den weitläuftigsten Roman hinreichen pwa_256.013
würde: Beispiel die Novellen des Cervantes. Daher herrscht pwa_256.014
denn auch unter den Schriftstellern wie im Publicum eine beständige pwa_256.015
Unsicherheit im Gebrauche dieser Namen.

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Gebräuchlicher übrigens als die Benennung Erzählung ist eine pwa_256.017
von den Italiänern und Spaniern entlehnte, Novelle (novella, novela). pwa_256.018
Und nicht selten wird in der Theorie wie in der Praxis ein Unterschied pwa_256.019
zwischen beiden gemacht. In folgender Weise. Eine Erzählung, pwa_256.020
welche ruhig vorwärts schreitet, den Verlauf der Begebenheiten beim pwa_256.021
allerersten Anfange beginnt und ihn in möglichst gradem Gange bis zum pwa_256.022
letzten Ende vollständig ausführt, eine solche gänzlich und rein epische pwa_256.023
Erzählung nennt man dann auch eine Erzählung. Nimmt dagegen die pwa_256.024
Darstellung einen mehr dramatisch bewegten Character an, verweilt pwa_256.025
sie nur bei den bedeutsameren und wichtigeren Situationen, zeigt sie pwa_256.026
ihren Helden gleich beim ersten Auftreten so, dass er durch Handeln pwa_256.027
und Leiden eine volle und gespannte Theilnahme in Anspruch nimmt, pwa_256.028
und bricht sie ab, wenn das Wesentliche geschehen und vollbracht pwa_256.029
ist, so dass sich der Leser das Minderwesentliche, das noch übrig pwa_256.030
bleibt, in eigenen Gedanken hinzu ergänzen kann: ist die Erzählung pwa_256.031
so beschaffen, so heisst sie eine Novelle. Eine Erzählung wird also pwa_256.032
z. B. damit beginnen, dass der Held von Vater und Mutter Abschied pwa_256.033
nimmt und in die Fremde zieht, und wird endigen mit dem Gastmal pwa_256.034
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fertig, sowie jeder sieht, dass es zu einer Hochzeit kommen müsse, pwa_256.038
aber bis zur Hochzeit selbst geht sie grade nicht fort. Dieser Unterschied pwa_256.039
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[256/0274] pwa_256.001 dass die prosaische Erzählung in sich einfacher und minder pwa_256.002 verwickelt und von geringerem Umfange sei als der Roman. Und pwa_256.003 damit ist allerdings keine sonderlich scharfe Trennungslinie gezogen: pwa_256.004 denn verschiedene Personen und Zeiten haben für das Mehr oder Minder pwa_256.005 der Verwickelung und Ausdehnung auch einen verschiedenen Massstab. pwa_256.006 Zudem halten auch Verwickelung und Ausdehnung nicht immer gleichen pwa_256.007 Schritt: es giebt erzählende Prosawerke, die in sich so kurz sind, äusserlich pwa_256.008 aber so lang und breit, dass man sie aus dem einen Grunde Erzählungen pwa_256.009 nennen könnte und aus dem anderen Romane: so die humoristischen pwa_256.010 Erzählungen Jean Pauls; und umgekehrt liegt nicht selten pwa_256.011 in dem geringsten Umfange, wie ihn nur die sogenannten Erzählungen pwa_256.012 haben, eine Fülle des Inhalts, die für den weitläuftigsten Roman hinreichen pwa_256.013 würde: Beispiel die Novellen des Cervantes. Daher herrscht pwa_256.014 denn auch unter den Schriftstellern wie im Publicum eine beständige pwa_256.015 Unsicherheit im Gebrauche dieser Namen. pwa_256.016 Gebräuchlicher übrigens als die Benennung Erzählung ist eine pwa_256.017 von den Italiänern und Spaniern entlehnte, Novelle (novella, novela). pwa_256.018 Und nicht selten wird in der Theorie wie in der Praxis ein Unterschied pwa_256.019 zwischen beiden gemacht. In folgender Weise. Eine Erzählung, pwa_256.020 welche ruhig vorwärts schreitet, den Verlauf der Begebenheiten beim pwa_256.021 allerersten Anfange beginnt und ihn in möglichst gradem Gange bis zum pwa_256.022 letzten Ende vollständig ausführt, eine solche gänzlich und rein epische pwa_256.023 Erzählung nennt man dann auch eine Erzählung. Nimmt dagegen die pwa_256.024 Darstellung einen mehr dramatisch bewegten Character an, verweilt pwa_256.025 sie nur bei den bedeutsameren und wichtigeren Situationen, zeigt sie pwa_256.026 ihren Helden gleich beim ersten Auftreten so, dass er durch Handeln pwa_256.027 und Leiden eine volle und gespannte Theilnahme in Anspruch nimmt, pwa_256.028 und bricht sie ab, wenn das Wesentliche geschehen und vollbracht pwa_256.029 ist, so dass sich der Leser das Minderwesentliche, das noch übrig pwa_256.030 bleibt, in eigenen Gedanken hinzu ergänzen kann: ist die Erzählung pwa_256.031 so beschaffen, so heisst sie eine Novelle. Eine Erzählung wird also pwa_256.032 z. B. damit beginnen, dass der Held von Vater und Mutter Abschied pwa_256.033 nimmt und in die Fremde zieht, und wird endigen mit dem Gastmal pwa_256.034 und dem Tanz bei seiner Hochzeit; eine Novelle dagegen zeigt ihn, pwa_256.035 sowie sie anhebt, etwa gleich mitten in der Wanderung, weit fort pwa_256.036 in der Fremde, gleich in allerlei Reiseabenteuern, und sie ist schon pwa_256.037 fertig, sowie jeder sieht, dass es zu einer Hochzeit kommen müsse, pwa_256.038 aber bis zur Hochzeit selbst geht sie grade nicht fort. Dieser Unterschied pwa_256.039 wäre ganz gut, und man müsste ihn billigen, wenn er nur pwa_256.040 durchzuführen wäre. Aber so scharf sondern sich die beiden Arten pwa_256.041 der Darstellung nicht überall; man bedürfte dann eigentlich noch einiger

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/274>, abgerufen am 22.11.2024.