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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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genommen werden, womit dann die Characteristik wenigstens stellenweise pwa_263.002
in das Gleis der eigentlichen Erzählung zurücklenkt. In diesem Stück pwa_263.003
ist Johannes von Müller weniger ein Muster: seine Characteristiken, pwa_263.004
z. B. die Ludwigs XI. und Karls des Kühnen (LB. 3, 2, 831 und 835), pwa_263.005
tragen mehr das Gepräge einer aus Einzelheiten etwas künstlich zusammengesetzten pwa_263.006
Mosaik, als sie daraus zu einem belebten Organismus pwa_263.007
erwachsen wären. Höher stehen in dieser Beziehung ausser Fr. Rühs, pwa_263.008
aus dessen Geschichte von Schweden die Characteristiken Gustav pwa_263.009
Adolfs und Karls XII. wohl als vorzügliche Beispiele dürfen angeführt pwa_263.010
werden, der Biograph Karl August Varnhagen von Ense und vor allem pwa_263.011
der Historiker Leopold von Ranke: es mag genügen von jenem die pwa_263.012
Schilderung Blüchers (LB. 3, 2, 1313), von diesem die Characteristik pwa_263.013
des Ignatius Loyola (LB. 3, 2, 1471) als besonders mustergiltig hervorzuheben.

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In ähnlicher Weise nun wie das Gespräch hat sich auch die Characteristik pwa_263.016
zu einer besonderen Gattung didactisch erzählender Prosa pwa_263.017
erhoben. Diese Characteristiken sind von doppelter Art. Entweder pwa_263.018
schliessen sie sich näher an die Geschichtsschreibung an, insofern ihr pwa_263.019
Gegenstand eine wirklich historische Person ist: solche Characteristiken pwa_263.020
sind z. B. die Gedächtnissreden (eloges), die von französischen Academikern pwa_263.021
auf verstorbene Mitglieder gehalten werden, solche auch die pwa_263.022
litterarischen Characteristiken, wie sie A. W. von Schlegel z. B. von pwa_263.023
Bürger und Anderen entworfen hat: die Thaten, aus denen hier der pwa_263.024
Character entnommen wird, sind Schriften, und der Character auch pwa_263.025
nur der schriftstellerische. Hieher gehören auch die früher schon pwa_263.026
erwähnten Schilderungen, die der König Ludwig von Bayern Walhallas pwa_263.027
Genossen betitelt hat (LB. 3, 2, 1493). Oder aber, und diese pwa_263.028
zweite Art ist in der Litteratur von grösserer Bedeutung, sie schliessen pwa_263.029
sich mehr an den Roman, und die Persönlichkeiten, deren Character pwa_263.030
soll geschildert werden, sind erst zu diesem Behufe erfunden. Solche pwa_263.031
Characteristiken sind die Charactere des Theophrast und seiner Nachahmer, pwa_263.032
unter denen de la Bruyere der berühmteste ist; auch da wird unter pwa_263.033
der Annahme einer einzigen bestimmten Persönlichkeit je ein allgemein pwa_263.034
gangbarer Character entwickelt; ein Geizhals z. B. wird hingestellt und pwa_263.035
auf dem Grunde dieser erfundenen Persönlichkeit der Geiz von allerlei pwa_263.036
Seiten her und nach allerlei Seiten hin characteristisch geschildert. Die pwa_263.037
Freiheit der Erfindung macht dem Verfasser solcher Characteristiken das pwa_263.038
Geschäft leichter, als es für die Characteristik historischer Personen pwa_263.039
ist. Für den Verfasser einer historischen Characteristik ist die psychologische pwa_263.040
Entwickelung fast das einzige, wenigstens das hauptsächlichste pwa_263.041
Mittel, um seiner Darstellung einen gewissermassen historischen

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genommen werden, womit dann die Characteristik wenigstens stellenweise pwa_263.002
in das Gleis der eigentlichen Erzählung zurücklenkt. In diesem Stück pwa_263.003
ist Johannes von Müller weniger ein Muster: seine Characteristiken, pwa_263.004
z. B. die Ludwigs XI. und Karls des Kühnen (LB. 3, 2, 831 und 835), pwa_263.005
tragen mehr das Gepräge einer aus Einzelheiten etwas künstlich zusammengesetzten pwa_263.006
Mosaik, als sie daraus zu einem belebten Organismus pwa_263.007
erwachsen wären. Höher stehen in dieser Beziehung ausser Fr. Rühs, pwa_263.008
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Adolfs und Karls XII. wohl als vorzügliche Beispiele dürfen angeführt pwa_263.010
werden, der Biograph Karl August Varnhagen von Ense und vor allem pwa_263.011
der Historiker Leopold von Ranke: es mag genügen von jenem die pwa_263.012
Schilderung Blüchers (LB. 3, 2, 1313), von diesem die Characteristik pwa_263.013
des Ignatius Loyola (LB. 3, 2, 1471) als besonders mustergiltig hervorzuheben.

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In ähnlicher Weise nun wie das Gespräch hat sich auch die Characteristik pwa_263.016
zu einer besonderen Gattung didactisch erzählender Prosa pwa_263.017
erhoben. Diese Characteristiken sind von doppelter Art. Entweder pwa_263.018
schliessen sie sich näher an die Geschichtsschreibung an, insofern ihr pwa_263.019
Gegenstand eine wirklich historische Person ist: solche Characteristiken pwa_263.020
sind z. B. die Gedächtnissreden (éloges), die von französischen Academikern pwa_263.021
auf verstorbene Mitglieder gehalten werden, solche auch die pwa_263.022
litterarischen Characteristiken, wie sie A. W. von Schlegel z. B. von pwa_263.023
Bürger und Anderen entworfen hat: die Thaten, aus denen hier der pwa_263.024
Character entnommen wird, sind Schriften, und der Character auch pwa_263.025
nur der schriftstellerische. Hieher gehören auch die früher schon pwa_263.026
erwähnten Schilderungen, die der König Ludwig von Bayern Walhallas pwa_263.027
Genossen betitelt hat (LB. 3, 2, 1493). Oder aber, und diese pwa_263.028
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sich mehr an den Roman, und die Persönlichkeiten, deren Character pwa_263.030
soll geschildert werden, sind erst zu diesem Behufe erfunden. Solche pwa_263.031
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unter denen de la Bruyère der berühmteste ist; auch da wird unter pwa_263.033
der Annahme einer einzigen bestimmten Persönlichkeit je ein allgemein pwa_263.034
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/281>, abgerufen am 22.11.2024.