Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_271.001 pwa_271.020 pwa_271.022 pwa_271.029 pwa_271.001 pwa_271.020 pwa_271.022 pwa_271.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0289" n="271"/><lb n="pwa_271.001"/> pflegen, nun auch in die abhandelnden Briefe und Dialoge hinübernähme: <lb n="pwa_271.002"/> denn alsdann würden diese Formen dem letzten Zwecke der <lb n="pwa_271.003"/> Ueberzeugung mehr schaden als nützen. Dergleichen muss natürlich <lb n="pwa_271.004"/> beseitigt werden, ausser wo es, wie bei Plato, zur Entwickelung hilft, <lb n="pwa_271.005"/> oder, wie bei Socrates, zur dialectischen Methode gehört, und die <lb n="pwa_271.006"/> Kunst des Verfassers wird sich besonders darin zeigen, dass der <lb n="pwa_271.007"/> Dialog, der Briefwechsel vollkommen planmässig geordnet sei, und <lb n="pwa_271.008"/> man es ihm doch nicht ansehe, dass es vielmehr scheine, als mache <lb n="pwa_271.009"/> sich das Alles so von selbst, als gehe das Gespräch in leichten, zufälligen <lb n="pwa_271.010"/> Schritten einen vorher noch gar nicht berechneten Weg. Als <lb n="pwa_271.011"/> negatives Muster mag O. F. Gruppes Antaeus gelten, ein gegen die <lb n="pwa_271.012"/> Hegelische Philosophie gerichteter Briefwechsel: hier finden wir nichts <lb n="pwa_271.013"/> als ein planloses Durcheinander, mitten im Briefwechsel ist das gesetzte <lb n="pwa_271.014"/> Ziel schon mehrere Mal erreicht, und mehrere Mal wird wieder von <lb n="pwa_271.015"/> vorn angefangen: es herrscht in diesem fingierten Briefwechsel, der <lb n="pwa_271.016"/> doch auf ein bestimmtes Resultat hinarbeitet, beinahe noch mehr vergessliche <lb n="pwa_271.017"/> und unaufmerksame Nachlässigkeit, als sonst wohl in einem <lb n="pwa_271.018"/> wirklich geführten Briefwechsel herrscht, wenn er mit Verstand geführt <lb n="pwa_271.019"/> wird.</p> <p><lb n="pwa_271.020"/> Soviel von der ersten Art der lehrenden Prosa; nunmehr haben <lb n="pwa_271.021"/> wir noch die <hi rendition="#b">rednerische Prosa</hi> zu besprechen.</p> <p><lb n="pwa_271.022"/> Mit der Betrachtung der rednerischen Prosa gelangen wir zu <lb n="pwa_271.023"/> demjenigen Abschnitte der Rhetorik, der insbesondre für sich den <lb n="pwa_271.024"/> Namen der Rhetorik ansprechen darf, insofern Rhetorik eigentlich <lb n="pwa_271.025"/> die Theorie der Beredsamkeit bezeichnet. Da wir gegen die gewohnte <lb n="pwa_271.026"/> Weise Alles ausschliessen, was der Stilistik angehört, so wird für <lb n="pwa_271.027"/> uns dieser Abschnitt, obwohl immer noch umfangreich genug, kürzer <lb n="pwa_271.028"/> ausfallen, als sonst die Rhetoriken zu sein pflegen.</p> <p><lb n="pwa_271.029"/> Der Unterschied der rednerischen Prosa von der abhandelnden <lb n="pwa_271.030"/> ist bereits kurz bezeichnet worden: die abhandelnde sucht ihren lehrhaften <lb n="pwa_271.031"/> Zweck zu erreichen durch blosse Ueberzeugung, die rednerische <lb n="pwa_271.032"/> braucht nach der Ueberzeugung auch noch die Ueberredung. Die <lb n="pwa_271.033"/> Abhandlung verbleibt daher bei der blossen Wirksamkeit des Verstandes <lb n="pwa_271.034"/> und der Einwirkung auf den Verstand; von den anderen Kräften <lb n="pwa_271.035"/> darf etwa nur noch die Erinnerung in ihr thätig sein und auch diese <lb n="pwa_271.036"/> nur in so fern, als die Abhandlung zuweilen ihre eigentliche Natur <lb n="pwa_271.037"/> ablegt und in die Erzählung oder Beschreibung übergeht. Die Rede <lb n="pwa_271.038"/> hat freilich als nächstes Ziel auch nur den Verstand: aber sie fügt zu <lb n="pwa_271.039"/> der Gewalt der verständigen Ueberzeugung immer noch diess, dass <lb n="pwa_271.040"/> sie auch die Einbildung in Anspruch nimmt und namentlich mit ihrer <lb n="pwa_271.041"/> Hilfe auch auf das Gefühl einwirkt, und zwar insofern auf diesem der </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [271/0289]
pwa_271.001
pflegen, nun auch in die abhandelnden Briefe und Dialoge hinübernähme: pwa_271.002
denn alsdann würden diese Formen dem letzten Zwecke der pwa_271.003
Ueberzeugung mehr schaden als nützen. Dergleichen muss natürlich pwa_271.004
beseitigt werden, ausser wo es, wie bei Plato, zur Entwickelung hilft, pwa_271.005
oder, wie bei Socrates, zur dialectischen Methode gehört, und die pwa_271.006
Kunst des Verfassers wird sich besonders darin zeigen, dass der pwa_271.007
Dialog, der Briefwechsel vollkommen planmässig geordnet sei, und pwa_271.008
man es ihm doch nicht ansehe, dass es vielmehr scheine, als mache pwa_271.009
sich das Alles so von selbst, als gehe das Gespräch in leichten, zufälligen pwa_271.010
Schritten einen vorher noch gar nicht berechneten Weg. Als pwa_271.011
negatives Muster mag O. F. Gruppes Antaeus gelten, ein gegen die pwa_271.012
Hegelische Philosophie gerichteter Briefwechsel: hier finden wir nichts pwa_271.013
als ein planloses Durcheinander, mitten im Briefwechsel ist das gesetzte pwa_271.014
Ziel schon mehrere Mal erreicht, und mehrere Mal wird wieder von pwa_271.015
vorn angefangen: es herrscht in diesem fingierten Briefwechsel, der pwa_271.016
doch auf ein bestimmtes Resultat hinarbeitet, beinahe noch mehr vergessliche pwa_271.017
und unaufmerksame Nachlässigkeit, als sonst wohl in einem pwa_271.018
wirklich geführten Briefwechsel herrscht, wenn er mit Verstand geführt pwa_271.019
wird.
pwa_271.020
Soviel von der ersten Art der lehrenden Prosa; nunmehr haben pwa_271.021
wir noch die rednerische Prosa zu besprechen.
pwa_271.022
Mit der Betrachtung der rednerischen Prosa gelangen wir zu pwa_271.023
demjenigen Abschnitte der Rhetorik, der insbesondre für sich den pwa_271.024
Namen der Rhetorik ansprechen darf, insofern Rhetorik eigentlich pwa_271.025
die Theorie der Beredsamkeit bezeichnet. Da wir gegen die gewohnte pwa_271.026
Weise Alles ausschliessen, was der Stilistik angehört, so wird für pwa_271.027
uns dieser Abschnitt, obwohl immer noch umfangreich genug, kürzer pwa_271.028
ausfallen, als sonst die Rhetoriken zu sein pflegen.
pwa_271.029
Der Unterschied der rednerischen Prosa von der abhandelnden pwa_271.030
ist bereits kurz bezeichnet worden: die abhandelnde sucht ihren lehrhaften pwa_271.031
Zweck zu erreichen durch blosse Ueberzeugung, die rednerische pwa_271.032
braucht nach der Ueberzeugung auch noch die Ueberredung. Die pwa_271.033
Abhandlung verbleibt daher bei der blossen Wirksamkeit des Verstandes pwa_271.034
und der Einwirkung auf den Verstand; von den anderen Kräften pwa_271.035
darf etwa nur noch die Erinnerung in ihr thätig sein und auch diese pwa_271.036
nur in so fern, als die Abhandlung zuweilen ihre eigentliche Natur pwa_271.037
ablegt und in die Erzählung oder Beschreibung übergeht. Die Rede pwa_271.038
hat freilich als nächstes Ziel auch nur den Verstand: aber sie fügt zu pwa_271.039
der Gewalt der verständigen Ueberzeugung immer noch diess, dass pwa_271.040
sie auch die Einbildung in Anspruch nimmt und namentlich mit ihrer pwa_271.041
Hilfe auch auf das Gefühl einwirkt, und zwar insofern auf diesem der
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |