Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_273.001 pwa_273.023 pwa_273.037 pwa_273.001 pwa_273.023 pwa_273.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0291" n="273"/><lb n="pwa_273.001"/> England und etwa in Frankreich zu suchen haben. Jede solche Rede <lb n="pwa_273.002"/> hat also zuerst einen äusseren Anstoss und Anlass in einer eben geschehenen <lb n="pwa_273.003"/> Thatsache oder in einer noch vorliegenden Wirklichkeit. Es <lb n="pwa_273.004"/> hat sich z. B. Philipp von Macedonien als Eroberer Uebergriffe erlaubt, <lb n="pwa_273.005"/> wodurch Athen in seiner freien Existenz gefährdet ist; oder es ist <lb n="pwa_273.006"/> dadurch, dass die volkreichsten und blühendsten Städte Englands gar <lb n="pwa_273.007"/> nicht im Parlament repräsentiert sind, ein bedrohliches Missverhältniss <lb n="pwa_273.008"/> innerhalb der englischen Verfassung eingetreten. Nun treten Demosthenes <lb n="pwa_273.009"/> und Lord Russel vor dem versammelten Volke auf und entwickeln <lb n="pwa_273.010"/> die politischen Grundsätze, welche bei diesem Anstoss in Betracht kommen: <lb n="pwa_273.011"/> aber sie haben es nicht bloss auf diese Theoreme abgesehen, sie <lb n="pwa_273.012"/> wollen Athen und England nicht bloss von deren Wahrheit überzeugen, <lb n="pwa_273.013"/> sondern sie wollen ihr Volk auch bewegen, dieselben ins Werk zu <lb n="pwa_273.014"/> setzen, jene Theoreme auch practisch zu machen, nicht bloss zu wissen, <lb n="pwa_273.015"/> sondern auch demgemäss zu wollen und zu handeln; die Athener <lb n="pwa_273.016"/> sollen sich zum Schutze ihrer Freiheit waffnen, die Volksvertretung <lb n="pwa_273.017"/> Englands soll reformiert werden: kurz, sie fügen zu der Ueberzeugung <lb n="pwa_273.018"/> noch die Ueberredung: erst damit wird ihr Vortrag zu einer Rede, <lb n="pwa_273.019"/> ohne sie wäre er eine blosse Abhandlung. Und so wie in diesen Beispielen <lb n="pwa_273.020"/> ist jegliche politische Rede immer nur eine Erörterung von <lb n="pwa_273.021"/> Grundsätzen der Staatsweisheit auf einen thatsächlichen Anlass und zu <lb n="pwa_273.022"/> einem thatsächlichen Zwecke.</p> <p><lb n="pwa_273.023"/> Die <hi rendition="#b">gerichtliche</hi> Rede (<foreign xml:lang="grc">γένος δικανικόν</foreign>, <hi rendition="#i">genus judiciale</hi>) hat in <lb n="pwa_273.024"/> derselben practischen Doppelbeziehung die Wahrheiten des Rechts, die <lb n="pwa_273.025"/> rechtlichen Grundsätze darzulegen und zu behaupten. Sie klagt entweder <lb n="pwa_273.026"/> an oder sie vertheidigt. In beiden Fällen ist der thatsächliche <lb n="pwa_273.027"/> Anlass eine Rechtsverletzung: denn auch eine unbegründete Anklage, <lb n="pwa_273.028"/> gegen die sich nun die Vertheidigung richtet, ist eine Rechtsverletzung. <lb n="pwa_273.029"/> Der vertheidigende oder anklagende Redner will nun nicht bloss jene <lb n="pwa_273.030"/> Rechtssätze erkannt und anerkannt, sondern auch angewandt haben, <lb n="pwa_273.031"/> es soll sich daraus in der Wirklichkeit eine Wiederherstellung der <lb n="pwa_273.032"/> gestörten Rechtsverhältnisse ergeben, Freigebung des unschuldig Angeklagten, <lb n="pwa_273.033"/> Bestrafung des Schuldigen. Ich brauche kaum zu erinnern, <lb n="pwa_273.034"/> dass sich von den antiken Mustern der gerichtlichen Beredsamkeit die <lb n="pwa_273.035"/> Mehrzahl in der römischen Litteratur, bei diesem Volke des Rechtes <lb n="pwa_273.036"/> vorfindet.</p> <p><lb n="pwa_273.037"/> Von <hi rendition="#b">geistlicher</hi> Beredsamkeit weiss das antike Heidenthum nichts; <lb n="pwa_273.038"/> aber sie ist nicht grade dem Christenthum, sie ist überhaupt den monotheistischen <lb n="pwa_273.039"/> Religionen eigen, auch dem Judenthum und dem Mohamedanismus; <lb n="pwa_273.040"/> sie hat sich aber, getragen durch den Gehalt des religiösen <lb n="pwa_273.041"/> Bekenntnisses und durch die anderweitige Bildung, in der christlichen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [273/0291]
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England und etwa in Frankreich zu suchen haben. Jede solche Rede pwa_273.002
hat also zuerst einen äusseren Anstoss und Anlass in einer eben geschehenen pwa_273.003
Thatsache oder in einer noch vorliegenden Wirklichkeit. Es pwa_273.004
hat sich z. B. Philipp von Macedonien als Eroberer Uebergriffe erlaubt, pwa_273.005
wodurch Athen in seiner freien Existenz gefährdet ist; oder es ist pwa_273.006
dadurch, dass die volkreichsten und blühendsten Städte Englands gar pwa_273.007
nicht im Parlament repräsentiert sind, ein bedrohliches Missverhältniss pwa_273.008
innerhalb der englischen Verfassung eingetreten. Nun treten Demosthenes pwa_273.009
und Lord Russel vor dem versammelten Volke auf und entwickeln pwa_273.010
die politischen Grundsätze, welche bei diesem Anstoss in Betracht kommen: pwa_273.011
aber sie haben es nicht bloss auf diese Theoreme abgesehen, sie pwa_273.012
wollen Athen und England nicht bloss von deren Wahrheit überzeugen, pwa_273.013
sondern sie wollen ihr Volk auch bewegen, dieselben ins Werk zu pwa_273.014
setzen, jene Theoreme auch practisch zu machen, nicht bloss zu wissen, pwa_273.015
sondern auch demgemäss zu wollen und zu handeln; die Athener pwa_273.016
sollen sich zum Schutze ihrer Freiheit waffnen, die Volksvertretung pwa_273.017
Englands soll reformiert werden: kurz, sie fügen zu der Ueberzeugung pwa_273.018
noch die Ueberredung: erst damit wird ihr Vortrag zu einer Rede, pwa_273.019
ohne sie wäre er eine blosse Abhandlung. Und so wie in diesen Beispielen pwa_273.020
ist jegliche politische Rede immer nur eine Erörterung von pwa_273.021
Grundsätzen der Staatsweisheit auf einen thatsächlichen Anlass und zu pwa_273.022
einem thatsächlichen Zwecke.
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Die gerichtliche Rede (γένος δικανικόν, genus judiciale) hat in pwa_273.024
derselben practischen Doppelbeziehung die Wahrheiten des Rechts, die pwa_273.025
rechtlichen Grundsätze darzulegen und zu behaupten. Sie klagt entweder pwa_273.026
an oder sie vertheidigt. In beiden Fällen ist der thatsächliche pwa_273.027
Anlass eine Rechtsverletzung: denn auch eine unbegründete Anklage, pwa_273.028
gegen die sich nun die Vertheidigung richtet, ist eine Rechtsverletzung. pwa_273.029
Der vertheidigende oder anklagende Redner will nun nicht bloss jene pwa_273.030
Rechtssätze erkannt und anerkannt, sondern auch angewandt haben, pwa_273.031
es soll sich daraus in der Wirklichkeit eine Wiederherstellung der pwa_273.032
gestörten Rechtsverhältnisse ergeben, Freigebung des unschuldig Angeklagten, pwa_273.033
Bestrafung des Schuldigen. Ich brauche kaum zu erinnern, pwa_273.034
dass sich von den antiken Mustern der gerichtlichen Beredsamkeit die pwa_273.035
Mehrzahl in der römischen Litteratur, bei diesem Volke des Rechtes pwa_273.036
vorfindet.
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Von geistlicher Beredsamkeit weiss das antike Heidenthum nichts; pwa_273.038
aber sie ist nicht grade dem Christenthum, sie ist überhaupt den monotheistischen pwa_273.039
Religionen eigen, auch dem Judenthum und dem Mohamedanismus; pwa_273.040
sie hat sich aber, getragen durch den Gehalt des religiösen pwa_273.041
Bekenntnisses und durch die anderweitige Bildung, in der christlichen
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