Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_276.001 pwa_276.018 pwa_276.036 pwa_276.001 pwa_276.018 pwa_276.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0294" n="276"/><lb n="pwa_276.001"/> einer Rede zu geben. Ein Panegyricus der neueren Zeit jedoch macht <lb n="pwa_276.002"/> von den übrigen eine bemerkenswerthe Ausnahme, die academische <lb n="pwa_276.003"/> Lobrede Johannes von Müllers auf Friedrich den Grossen (De la gloire <lb n="pwa_276.004"/> de Frédéric II.; deutsch von Göthe: LB. 3, 2, 597). Allerdings geht <lb n="pwa_276.005"/> auch sie auf Characteristik aus, aber nicht ohne einen gewissen <lb n="pwa_276.006"/> thatsächlichen Anlass und nicht ohne practischen Zweck, wie beide für <lb n="pwa_276.007"/> eigentliche Reden gefordert werden. Der thatsächliche Anlass ist der <lb n="pwa_276.008"/> in der Berliner Academie beständig fortdauernde Ruhm jenes Königs, <lb n="pwa_276.009"/> wie ja dieselbe noch gehalten ist, alljährlich dessen Gedächtnisstag <lb n="pwa_276.010"/> zu feiern; der practische Zweck lag in den waltenden Zeitumständen: <lb n="pwa_276.011"/> die Rede ist gehalten im Jahre 1807, als die preussische Monarchie <lb n="pwa_276.012"/> vernichtet zu sein schien: da galt es denn, durch das Bild jenes <lb n="pwa_276.013"/> Ruhmes sowohl die Preussen selber zu trösten und zu ermuthigen, als <lb n="pwa_276.014"/> auch den Uebermuth des Siegers zu dämpfen und seine Grossmuth zu <lb n="pwa_276.015"/> gewinnen. Bei der Verdeutschung mag man noch besonders bewundern, <lb n="pwa_276.016"/> wie es Göthe gelungen sei, sich den Eigenthümlichkeiten des <lb n="pwa_276.017"/> Müllerischen Stiles anzuschmiegen.</p> <p><lb n="pwa_276.018"/> Wenn die Lobreden eigentlich Characteristiken, also wesentlich <lb n="pwa_276.019"/> historisch sind, nur umkleidet mit dem Schmucke der Rhetorik, so <lb n="pwa_276.020"/> sind eine andere Art Reden, die wir auch ganz wohl noch zu dem <lb n="pwa_276.021"/> genus demonstrativum rechnen dürfen, häufig weiter nichts als Abhandlungen. <lb n="pwa_276.022"/> Es sind das die <hi rendition="#b">Schulreden,</hi> Reden bei academischen und <lb n="pwa_276.023"/> Schulfeierlichkeiten, deren die neuere Zeit viele auch über Gegenstände <lb n="pwa_276.024"/> nicht historischer Art besitzt: das Alterthum kannte dergleichen noch <lb n="pwa_276.025"/> gar nicht. Als Beispiele erwähne ich hier bloss Herders Schulrede <lb n="pwa_276.026"/> von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Nothwendigkeit der Geographie <lb n="pwa_276.027"/> (LB. 3, 2, 485) und Schillers academische Antrittsrede vom Jahre <lb n="pwa_276.028"/> 1789: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ <lb n="pwa_276.029"/> Im Grunde sind das nur Abhandlungen über wissenschaftliche <lb n="pwa_276.030"/> Themata, verständig überzeugende, ohne rechte rückwärts <lb n="pwa_276.031"/> und vorwärts deutende factische Bezüglichkeit, denen es aber deshalb <lb n="pwa_276.032"/> möglich war obenhin den Anschein von Reden zu geben, da die Rede <lb n="pwa_276.033"/> in der ganzen Art und Weise ihres Baues so viel Uebereinstimmendes <lb n="pwa_276.034"/> hat mit dem Bau einer Abhandlung, wie dieser früher ist beschrieben <lb n="pwa_276.035"/> worden.</p> <p><lb n="pwa_276.036"/> Wir sprechen jetzt vom Bau der Rede. Wohlgeordnete Abhandlungen <lb n="pwa_276.037"/> bestehn, wie wir gesehen haben (S. 267), jedesmal aus drei Theilen, <lb n="pwa_276.038"/> dem Eingange, der eigentlichen Abhandlung und dem Beschluss. Die <lb n="pwa_276.039"/> Rede nun, da ihr unmittelbarer und in ihr selbst liegender Zweck <lb n="pwa_276.040"/> auch die Ueberzeugung ist, muss sich, um diesen Zweck zu erlangen, <lb n="pwa_276.041"/> ebenso gliedern und ordnen, wie eine Abhandlung geordnet ist, auch </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [276/0294]
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einer Rede zu geben. Ein Panegyricus der neueren Zeit jedoch macht pwa_276.002
von den übrigen eine bemerkenswerthe Ausnahme, die academische pwa_276.003
Lobrede Johannes von Müllers auf Friedrich den Grossen (De la gloire pwa_276.004
de Frédéric II.; deutsch von Göthe: LB. 3, 2, 597). Allerdings geht pwa_276.005
auch sie auf Characteristik aus, aber nicht ohne einen gewissen pwa_276.006
thatsächlichen Anlass und nicht ohne practischen Zweck, wie beide für pwa_276.007
eigentliche Reden gefordert werden. Der thatsächliche Anlass ist der pwa_276.008
in der Berliner Academie beständig fortdauernde Ruhm jenes Königs, pwa_276.009
wie ja dieselbe noch gehalten ist, alljährlich dessen Gedächtnisstag pwa_276.010
zu feiern; der practische Zweck lag in den waltenden Zeitumständen: pwa_276.011
die Rede ist gehalten im Jahre 1807, als die preussische Monarchie pwa_276.012
vernichtet zu sein schien: da galt es denn, durch das Bild jenes pwa_276.013
Ruhmes sowohl die Preussen selber zu trösten und zu ermuthigen, als pwa_276.014
auch den Uebermuth des Siegers zu dämpfen und seine Grossmuth zu pwa_276.015
gewinnen. Bei der Verdeutschung mag man noch besonders bewundern, pwa_276.016
wie es Göthe gelungen sei, sich den Eigenthümlichkeiten des pwa_276.017
Müllerischen Stiles anzuschmiegen.
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Wenn die Lobreden eigentlich Characteristiken, also wesentlich pwa_276.019
historisch sind, nur umkleidet mit dem Schmucke der Rhetorik, so pwa_276.020
sind eine andere Art Reden, die wir auch ganz wohl noch zu dem pwa_276.021
genus demonstrativum rechnen dürfen, häufig weiter nichts als Abhandlungen. pwa_276.022
Es sind das die Schulreden, Reden bei academischen und pwa_276.023
Schulfeierlichkeiten, deren die neuere Zeit viele auch über Gegenstände pwa_276.024
nicht historischer Art besitzt: das Alterthum kannte dergleichen noch pwa_276.025
gar nicht. Als Beispiele erwähne ich hier bloss Herders Schulrede pwa_276.026
von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Nothwendigkeit der Geographie pwa_276.027
(LB. 3, 2, 485) und Schillers academische Antrittsrede vom Jahre pwa_276.028
1789: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ pwa_276.029
Im Grunde sind das nur Abhandlungen über wissenschaftliche pwa_276.030
Themata, verständig überzeugende, ohne rechte rückwärts pwa_276.031
und vorwärts deutende factische Bezüglichkeit, denen es aber deshalb pwa_276.032
möglich war obenhin den Anschein von Reden zu geben, da die Rede pwa_276.033
in der ganzen Art und Weise ihres Baues so viel Uebereinstimmendes pwa_276.034
hat mit dem Bau einer Abhandlung, wie dieser früher ist beschrieben pwa_276.035
worden.
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Wir sprechen jetzt vom Bau der Rede. Wohlgeordnete Abhandlungen pwa_276.037
bestehn, wie wir gesehen haben (S. 267), jedesmal aus drei Theilen, pwa_276.038
dem Eingange, der eigentlichen Abhandlung und dem Beschluss. Die pwa_276.039
Rede nun, da ihr unmittelbarer und in ihr selbst liegender Zweck pwa_276.040
auch die Ueberzeugung ist, muss sich, um diesen Zweck zu erlangen, pwa_276.041
ebenso gliedern und ordnen, wie eine Abhandlung geordnet ist, auch
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