Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_279.001 pwa_279.016 pwa_279.001 pwa_279.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0297" n="279"/><lb n="pwa_279.001"/> Zweck der Rede taugt, neben der Belehrung und durch dieselbe <lb n="pwa_279.002"/> auch auf den Willen einzuwirken. Gleichwohl lässt sich, wie einmal <lb n="pwa_279.003"/> die Sachen stehn, jene enge Verkettung beinahe nur noch von der <lb n="pwa_279.004"/> weltlichen Beredsamkeit fordern: denn in der geistlichen ist es durch <lb n="pwa_279.005"/> Rücksicht auf die alleräusserlichste Bequemlichkeit des Predigers und <lb n="pwa_279.006"/> der Gemeinde zu einer weitverbreiteten Uebung geworden, besonders <lb n="pwa_279.007"/> in der lutherischen Kirche, dass nach Vollendung des ersten Theiles <lb n="pwa_279.008"/> gradezu innegehalten und aller Zusammenhang durch eine wirkliche <lb n="pwa_279.009"/> Pause, durch den Gesang der Gemeinde unterbrochen werde. Dagegen <lb n="pwa_279.010"/> kann nun, wo das einmal üblich ist, der geistliche Redner nichts <lb n="pwa_279.011"/> mehr machen: aber er soll, was er hier verfehlen muss, wenigstens <lb n="pwa_279.012"/> anderswo zu vergüten suchen, soll dann wenigstens anderswo die <lb n="pwa_279.013"/> Uebergänge von Theil zu Theil, von Glied zu Glied desto leichter <lb n="pwa_279.014"/> und unmerklicher, desto mehr innerlich, desto weniger äusserlich <lb n="pwa_279.015"/> bilden.</p> <p><lb n="pwa_279.016"/> Der erste Theil, das <hi rendition="#b">Exordium.</hi> Die Bestimmung des Einganges <lb n="pwa_279.017"/> ist, wie Cicero (z. B. de inventione 1, 15, 20) und andere Rhetoriker <lb n="pwa_279.018"/> des Alterthums lehren, den Zuhörer <hi rendition="#i">wohlwollend, aufmerksam</hi> und <lb n="pwa_279.019"/> <hi rendition="#i">gelehrig</hi> zu machen: exordium est ut auditorem habeas benevolum <lb n="pwa_279.020"/> attentum docilem. Wir können uns vollkommen an diese Definition <lb n="pwa_279.021"/> halten, und wir wollen ihr mehr bindende Aufmerksamkeit schenken, <lb n="pwa_279.022"/> als das wohl sonst bei den neueren Rhetorikern der Fall ist. Einmal <lb n="pwa_279.023"/> ist auf die Reihenfolge der Adjectiva zu achten: sie sind weder so <lb n="pwa_279.024"/> gleichbedeutend, noch stehn sie einander in ihrem Sinne so fern, dass <lb n="pwa_279.025"/> es gleichgiltig sein könnte, wie man sie ordnet. Ihre Anordnung <lb n="pwa_279.026"/> enthält vielmehr einen causalen Fortschritt: die benevolentia bewirkt <lb n="pwa_279.027"/> die attentio, und die attentio hat zur Folge die docilitas. Demgemäss <lb n="pwa_279.028"/> richtet sich denn auch das Exordium in eben diesem Stufengange auf <lb n="pwa_279.029"/> das genannte dreifache Ziel: es sucht zuerst Wohlwollen zu gewinnen, <lb n="pwa_279.030"/> dann erweckt es Aufmerksamkeit, dann endlich nimmt es die Gelehrigkeit <lb n="pwa_279.031"/> in Anspruch. Sodann ist auch anzuerkennen, wie jene Definition <lb n="pwa_279.032"/> Zweck und Wesen des Exordiums vollständig erschöpfe; sie <lb n="pwa_279.033"/> berücksichtigt das Verhältniss, in welches sich der auftretende Redner <lb n="pwa_279.034"/> zu seiner Zuhörerschaft begiebt; sie berücksichtigt die im Exordium <lb n="pwa_279.035"/> geforderte Rückdeutung auf den Anlass und die Hinweisung auf den <lb n="pwa_279.036"/> bevorstehenden theoretischen Inhalt und den practischen Zweck der <lb n="pwa_279.037"/> Rede, sie berücksichtigt das Zusammenwirken der drei Seelenkräfte, <lb n="pwa_279.038"/> des Gefühls, der Einbildung, des Verstandes; sie berücksichtigt mit <lb n="pwa_279.039"/> Einem Worte die Mischung des allgemeinen lehrhaften Elementes mit <lb n="pwa_279.040"/> dem besonderen rednerischen, durch welche das Exordium einer Rede <lb n="pwa_279.041"/> sich von dem einer Abhandlung unterscheidet.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [279/0297]
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Zweck der Rede taugt, neben der Belehrung und durch dieselbe pwa_279.002
auch auf den Willen einzuwirken. Gleichwohl lässt sich, wie einmal pwa_279.003
die Sachen stehn, jene enge Verkettung beinahe nur noch von der pwa_279.004
weltlichen Beredsamkeit fordern: denn in der geistlichen ist es durch pwa_279.005
Rücksicht auf die alleräusserlichste Bequemlichkeit des Predigers und pwa_279.006
der Gemeinde zu einer weitverbreiteten Uebung geworden, besonders pwa_279.007
in der lutherischen Kirche, dass nach Vollendung des ersten Theiles pwa_279.008
gradezu innegehalten und aller Zusammenhang durch eine wirkliche pwa_279.009
Pause, durch den Gesang der Gemeinde unterbrochen werde. Dagegen pwa_279.010
kann nun, wo das einmal üblich ist, der geistliche Redner nichts pwa_279.011
mehr machen: aber er soll, was er hier verfehlen muss, wenigstens pwa_279.012
anderswo zu vergüten suchen, soll dann wenigstens anderswo die pwa_279.013
Uebergänge von Theil zu Theil, von Glied zu Glied desto leichter pwa_279.014
und unmerklicher, desto mehr innerlich, desto weniger äusserlich pwa_279.015
bilden.
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Der erste Theil, das Exordium. Die Bestimmung des Einganges pwa_279.017
ist, wie Cicero (z. B. de inventione 1, 15, 20) und andere Rhetoriker pwa_279.018
des Alterthums lehren, den Zuhörer wohlwollend, aufmerksam und pwa_279.019
gelehrig zu machen: exordium est ut auditorem habeas benevolum pwa_279.020
attentum docilem. Wir können uns vollkommen an diese Definition pwa_279.021
halten, und wir wollen ihr mehr bindende Aufmerksamkeit schenken, pwa_279.022
als das wohl sonst bei den neueren Rhetorikern der Fall ist. Einmal pwa_279.023
ist auf die Reihenfolge der Adjectiva zu achten: sie sind weder so pwa_279.024
gleichbedeutend, noch stehn sie einander in ihrem Sinne so fern, dass pwa_279.025
es gleichgiltig sein könnte, wie man sie ordnet. Ihre Anordnung pwa_279.026
enthält vielmehr einen causalen Fortschritt: die benevolentia bewirkt pwa_279.027
die attentio, und die attentio hat zur Folge die docilitas. Demgemäss pwa_279.028
richtet sich denn auch das Exordium in eben diesem Stufengange auf pwa_279.029
das genannte dreifache Ziel: es sucht zuerst Wohlwollen zu gewinnen, pwa_279.030
dann erweckt es Aufmerksamkeit, dann endlich nimmt es die Gelehrigkeit pwa_279.031
in Anspruch. Sodann ist auch anzuerkennen, wie jene Definition pwa_279.032
Zweck und Wesen des Exordiums vollständig erschöpfe; sie pwa_279.033
berücksichtigt das Verhältniss, in welches sich der auftretende Redner pwa_279.034
zu seiner Zuhörerschaft begiebt; sie berücksichtigt die im Exordium pwa_279.035
geforderte Rückdeutung auf den Anlass und die Hinweisung auf den pwa_279.036
bevorstehenden theoretischen Inhalt und den practischen Zweck der pwa_279.037
Rede, sie berücksichtigt das Zusammenwirken der drei Seelenkräfte, pwa_279.038
des Gefühls, der Einbildung, des Verstandes; sie berücksichtigt mit pwa_279.039
Einem Worte die Mischung des allgemeinen lehrhaften Elementes mit pwa_279.040
dem besonderen rednerischen, durch welche das Exordium einer Rede pwa_279.041
sich von dem einer Abhandlung unterscheidet.
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