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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Das ist nun Alles genauer zu erörtern. Es ist angemessen, dass pwa_280.002
die Rede sich gleich von vorn herein als solche ankündige, dass sie pwa_280.003
schon beim ersten Anfange ihren eigenthümlichen Character behaupte pwa_280.004
und bewähre, also dass sie gleich mit einer Einwirkung auf den Willen, pwa_280.005
mit Ueberredung anhebe. Nun ist es aber nicht möglich, schon pwa_280.006
jetzt den Willen auf das bestimmte Ziel hinzulenken, das jenseits der pwa_280.007
Rede liegt, schon jetzt den Zuhörer zu überreden, dass er etwas pwa_280.008
thue: er ist ja noch gar nicht belehrt, was geschehen ist, wie kann pwa_280.009
man ihm da schon sagen, was geschehen solle? Er ist über die pwa_280.010
ganze Sache noch zu gar keiner theoretischen Ueberzeugung gelangt: pwa_280.011
wie kann man da jetzt schon einen practischen Entschluss von ihm pwa_280.012
fordern? Diese eigentliche, volle Ueberredung muss daher nothwendiger pwa_280.013
Weise verspart werden auf den dritten Theil, wo die factische pwa_280.014
und wo die practische Belehrung bereits abgethan und zur Genüge pwa_280.015
ausgeführt sind. Gleichwohl soll das Exordium mit Ueberredung pwa_280.016
beginnen. Das geht nun unter solchen Umständen nur in der Weise, pwa_280.017
dass der Redner die Willfährigkeit der Zuhörer statt auf den beabsichtigten pwa_280.018
Zweck auf sich selbst hinleite, auf sich den Redner, der pwa_280.019
den Zweck beabsichtigt; dass er die Zuhörer zwar noch nicht jenem pwa_280.020
Zwecke, sondern nur noch sich selbst geneigt und wohlwollend zu pwa_280.021
machen suche. Und damit ist denn auch für die eigentliche, volle pwa_280.022
Ueberredung schon genug gewonnen: ist der Zuhörer dem Redner pwa_280.023
einmal geneigt, begleitet er die Worte dessen, der ihn überreden pwa_280.024
will, von Anfang an mit persönlichem Wohlwollen, so ist er damit auch pwa_280.025
schon halb für die Sache gewonnen, und das Wohlwollen für die Person pwa_280.026
wird sich unvermerkt in ein Wohlwollen für deren Zwecke verwandeln. pwa_280.027
Es beginnt also das Exordium und die ganze Rede damit, ut auditorem pwa_280.028
habeas benevolum. Man nennt deshalb diess Anfangsglied auch captatio pwa_280.029
benevolentiae;
auch werden zuweilen die Benennungen Exordium pwa_280.030
und Eingang ziemlich ungeschickt auf diese eine Unterabtheilung eingeschränkt. pwa_280.031
Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen: pwa_280.032
denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden pwa_280.033
Subjectes zu der hörenden Versammlung, nicht aber um die factischen pwa_280.034
und practischen und theoretischen Objecte seines Vortrages. Wie aber pwa_280.035
kann nun der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörerschaft erwerben? pwa_280.036
Indem er das Gefühl derselben auf wohlthuende Weise berührt durch pwa_280.037
Bescheidenheit, was ihn selbst betrifft, und durch Freundlichkeit gegen pwa_280.038
die Hörer; Beides fliesst in der Regel zusammen: je nachdrücklicher pwa_280.039
der Redner seine eigene Unzulänglichkeit bekennt, je mehr er sich pwa_280.040
selber von dem Rechte nimmt, sich als Lehrer über die Andern zu pwa_280.041
erheben, desto gewinnender ist das für diese Andern; desto mehr fühlen

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Das ist nun Alles genauer zu erörtern. Es ist angemessen, dass pwa_280.002
die Rede sich gleich von vorn herein als solche ankündige, dass sie pwa_280.003
schon beim ersten Anfange ihren eigenthümlichen Character behaupte pwa_280.004
und bewähre, also dass sie gleich mit einer Einwirkung auf den Willen, pwa_280.005
mit Ueberredung anhebe. Nun ist es aber nicht möglich, schon pwa_280.006
jetzt den Willen auf das bestimmte Ziel hinzulenken, das jenseits der pwa_280.007
Rede liegt, schon jetzt den Zuhörer zu überreden, dass er etwas pwa_280.008
thue: er ist ja noch gar nicht belehrt, was geschehen ist, wie kann pwa_280.009
man ihm da schon sagen, was geschehen solle? Er ist über die pwa_280.010
ganze Sache noch zu gar keiner theoretischen Ueberzeugung gelangt: pwa_280.011
wie kann man da jetzt schon einen practischen Entschluss von ihm pwa_280.012
fordern? Diese eigentliche, volle Ueberredung muss daher nothwendiger pwa_280.013
Weise verspart werden auf den dritten Theil, wo die factische pwa_280.014
und wo die practische Belehrung bereits abgethan und zur Genüge pwa_280.015
ausgeführt sind. Gleichwohl soll das Exordium mit Ueberredung pwa_280.016
beginnen. Das geht nun unter solchen Umständen nur in der Weise, pwa_280.017
dass der Redner die Willfährigkeit der Zuhörer statt auf den beabsichtigten pwa_280.018
Zweck auf sich selbst hinleite, auf sich den Redner, der pwa_280.019
den Zweck beabsichtigt; dass er die Zuhörer zwar noch nicht jenem pwa_280.020
Zwecke, sondern nur noch sich selbst geneigt und wohlwollend zu pwa_280.021
machen suche. Und damit ist denn auch für die eigentliche, volle pwa_280.022
Ueberredung schon genug gewonnen: ist der Zuhörer dem Redner pwa_280.023
einmal geneigt, begleitet er die Worte dessen, der ihn überreden pwa_280.024
will, von Anfang an mit persönlichem Wohlwollen, so ist er damit auch pwa_280.025
schon halb für die Sache gewonnen, und das Wohlwollen für die Person pwa_280.026
wird sich unvermerkt in ein Wohlwollen für deren Zwecke verwandeln. pwa_280.027
Es beginnt also das Exordium und die ganze Rede damit, ut auditorem pwa_280.028
habeas benevolum. Man nennt deshalb diess Anfangsglied auch captatio pwa_280.029
benevolentiae;
auch werden zuweilen die Benennungen Exordium pwa_280.030
und Eingang ziemlich ungeschickt auf diese eine Unterabtheilung eingeschränkt. pwa_280.031
Man könnte dieselbe auch den subjectiven Theil nennen: pwa_280.032
denn es handelt sich hier nur noch um die Stellung des redenden pwa_280.033
Subjectes zu der hörenden Versammlung, nicht aber um die factischen pwa_280.034
und practischen und theoretischen Objecte seines Vortrages. Wie aber pwa_280.035
kann nun der Redner sich das Wohlwollen der Zuhörerschaft erwerben? pwa_280.036
Indem er das Gefühl derselben auf wohlthuende Weise berührt durch pwa_280.037
Bescheidenheit, was ihn selbst betrifft, und durch Freundlichkeit gegen pwa_280.038
die Hörer; Beides fliesst in der Regel zusammen: je nachdrücklicher pwa_280.039
der Redner seine eigene Unzulänglichkeit bekennt, je mehr er sich pwa_280.040
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/298>, abgerufen am 22.11.2024.