Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_326.001 pwa_326.034 pwa_326.001 pwa_326.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0344" n="326"/><lb n="pwa_326.001"/> Sprache mitgetheilt, so ist das <hi rendition="#i">Erzählung;</hi> werden aber Wahrheiten <lb n="pwa_326.002"/> der stätigen geistigen Wirklichkeit, in deren Besitz der Verstand <lb n="pwa_326.003"/> zumeist durch das Urtheil gelangt, zum Gegenstande der Mittheilung <lb n="pwa_326.004"/> gemacht, so ist das <hi rendition="#i">Lehre</hi> im engeren Sinne des Wortes. Es kann <lb n="pwa_326.005"/> aber die äussere, sinnliche Wirklichkeit auch, indem man von dem <lb n="pwa_326.006"/> Wechsel der Erscheinungen absieht, für den Augenblick ruhig festgehalten <lb n="pwa_326.007"/> und in dieser Ruhe zum Gegenstande der Darstellung und <lb n="pwa_326.008"/> der Mittheilung gemacht werden: eine solche Darstellung und Mittheilung <lb n="pwa_326.009"/> ist dann <hi rendition="#i">Beschreibung.</hi> Es ist mithin die prosaische Darstellung <lb n="pwa_326.010"/> entweder Erzählung oder Lehre oder Beschreibung. Und diese drei <lb n="pwa_326.011"/> Arten, die didactische, die historische, die beschreibende Prosa, sind <lb n="pwa_326.012"/> es, die nach Abzug der Rede, des Romans, des Dialoges, des Briefes <lb n="pwa_326.013"/> noch übrig bleiben als die einzelnen Arten der rein und eigentlich <lb n="pwa_326.014"/> verständigen Prosa. Es zeigt sich aber die Verständigkeit am reinsten <lb n="pwa_326.015"/> bei der Lehre, in der Abhandlung und im Lehrbuch: hier hat bei <lb n="pwa_326.016"/> der Production wie bei der Reproduction lediglich der Verstand zu <lb n="pwa_326.017"/> schaffen, eine andere Seelenkraft kommt nicht in Betracht. Die erzählende <lb n="pwa_326.018"/> Prosa dagegen streift schon etwas über die reine Verständigkeit <lb n="pwa_326.019"/> hinaus: wie ihr Gebiet die bewegte sinnliche Welt ist, so stellt sich <lb n="pwa_326.020"/> hier dem Verstande schon die Einbildungskraft zur Seite. Und eben <lb n="pwa_326.021"/> diese entbehrt dann auch niemals gänzlich des Antheils an der Beschreibung: <lb n="pwa_326.022"/> denn auch deren Gegenstand ist die sinnliche Aussenwelt, nur <lb n="pwa_326.023"/> diessmal die ruhige, nicht historisch bewegte; wäre dieser eine Unterschied <lb n="pwa_326.024"/> nicht, so würden Beschreibung und Erzählung ganz zusammenfallen: <lb n="pwa_326.025"/> so aber legt sich die Beschreibung mitten hinein zwischen Lehre <lb n="pwa_326.026"/> und Erzählung, doch näher an die letztere. Aus all diesem ergiebt <lb n="pwa_326.027"/> sich denn, wie diese drei Arten der Prosa in Bezug auf jene fortschreitende <lb n="pwa_326.028"/> Gliederung, von der vorher die Rede war, anzuordnen <lb n="pwa_326.029"/> seien. Die niedere Art wird die didactische Prosa bilden: hier gilt <lb n="pwa_326.030"/> ohne weiteres nur die Deutlichkeit; die mittlere Art aber bildet die <lb n="pwa_326.031"/> Beschreibung, und die höhere die Erzählung: denn hier, und namentlich <lb n="pwa_326.032"/> in der Erzählung macht sich auch schon in etwas die Anschaulichkeit <lb n="pwa_326.033"/> geltend, der Character der zweiten Gattung des Stils.</p> <p><lb n="pwa_326.034"/> Der allgemeine Character dieser ersten Gattung, die bezeichnende <lb n="pwa_326.035"/> Eigenschaft, welche von jeder lehrenden oder beschreibenden oder <lb n="pwa_326.036"/> erzählenden Prosa zu fordern ist, sobald ihre äussere Form dem Inhalt <lb n="pwa_326.037"/> und dem Zweck entsprechen soll, ist <hi rendition="#b">Deutlichkeit,</hi> die sowohl zeigt, <lb n="pwa_326.038"/> dass der Verstand des Darstellenden sich des dargestellten Gegenstandes <lb n="pwa_326.039"/> vollkommen bemächtigt habe, als sie es auch dem reproducierenden <lb n="pwa_326.040"/> Verstande des Lesers möglich macht, sich desselben in der <lb n="pwa_326.041"/> gleichen Weise zu bemächtigen. Manche Rhetoriker häufen, um die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [326/0344]
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Sprache mitgetheilt, so ist das Erzählung; werden aber Wahrheiten pwa_326.002
der stätigen geistigen Wirklichkeit, in deren Besitz der Verstand pwa_326.003
zumeist durch das Urtheil gelangt, zum Gegenstande der Mittheilung pwa_326.004
gemacht, so ist das Lehre im engeren Sinne des Wortes. Es kann pwa_326.005
aber die äussere, sinnliche Wirklichkeit auch, indem man von dem pwa_326.006
Wechsel der Erscheinungen absieht, für den Augenblick ruhig festgehalten pwa_326.007
und in dieser Ruhe zum Gegenstande der Darstellung und pwa_326.008
der Mittheilung gemacht werden: eine solche Darstellung und Mittheilung pwa_326.009
ist dann Beschreibung. Es ist mithin die prosaische Darstellung pwa_326.010
entweder Erzählung oder Lehre oder Beschreibung. Und diese drei pwa_326.011
Arten, die didactische, die historische, die beschreibende Prosa, sind pwa_326.012
es, die nach Abzug der Rede, des Romans, des Dialoges, des Briefes pwa_326.013
noch übrig bleiben als die einzelnen Arten der rein und eigentlich pwa_326.014
verständigen Prosa. Es zeigt sich aber die Verständigkeit am reinsten pwa_326.015
bei der Lehre, in der Abhandlung und im Lehrbuch: hier hat bei pwa_326.016
der Production wie bei der Reproduction lediglich der Verstand zu pwa_326.017
schaffen, eine andere Seelenkraft kommt nicht in Betracht. Die erzählende pwa_326.018
Prosa dagegen streift schon etwas über die reine Verständigkeit pwa_326.019
hinaus: wie ihr Gebiet die bewegte sinnliche Welt ist, so stellt sich pwa_326.020
hier dem Verstande schon die Einbildungskraft zur Seite. Und eben pwa_326.021
diese entbehrt dann auch niemals gänzlich des Antheils an der Beschreibung: pwa_326.022
denn auch deren Gegenstand ist die sinnliche Aussenwelt, nur pwa_326.023
diessmal die ruhige, nicht historisch bewegte; wäre dieser eine Unterschied pwa_326.024
nicht, so würden Beschreibung und Erzählung ganz zusammenfallen: pwa_326.025
so aber legt sich die Beschreibung mitten hinein zwischen Lehre pwa_326.026
und Erzählung, doch näher an die letztere. Aus all diesem ergiebt pwa_326.027
sich denn, wie diese drei Arten der Prosa in Bezug auf jene fortschreitende pwa_326.028
Gliederung, von der vorher die Rede war, anzuordnen pwa_326.029
seien. Die niedere Art wird die didactische Prosa bilden: hier gilt pwa_326.030
ohne weiteres nur die Deutlichkeit; die mittlere Art aber bildet die pwa_326.031
Beschreibung, und die höhere die Erzählung: denn hier, und namentlich pwa_326.032
in der Erzählung macht sich auch schon in etwas die Anschaulichkeit pwa_326.033
geltend, der Character der zweiten Gattung des Stils.
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Der allgemeine Character dieser ersten Gattung, die bezeichnende pwa_326.035
Eigenschaft, welche von jeder lehrenden oder beschreibenden oder pwa_326.036
erzählenden Prosa zu fordern ist, sobald ihre äussere Form dem Inhalt pwa_326.037
und dem Zweck entsprechen soll, ist Deutlichkeit, die sowohl zeigt, pwa_326.038
dass der Verstand des Darstellenden sich des dargestellten Gegenstandes pwa_326.039
vollkommen bemächtigt habe, als sie es auch dem reproducierenden pwa_326.040
Verstande des Lesers möglich macht, sich desselben in der pwa_326.041
gleichen Weise zu bemächtigen. Manche Rhetoriker häufen, um die
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