Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_018.001 pwa_018.009 pwa_018.015 pwa_018.001 pwa_018.009 pwa_018.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0036" n="18"/> <p><lb n="pwa_018.001"/> Sodann, um den Process der dichterischen Conception weiter zu <lb n="pwa_018.002"/> verfolgen, gehören neben die Einbildung noch das Gefühl und der <lb n="pwa_018.003"/> Verstand, jedes auf seine Art prüfend, billigend oder verwerfend, das <lb n="pwa_018.004"/> Gefühl prüfend auf Lust oder Unlust, der Verstand auf Wahrheit oder <lb n="pwa_018.005"/> Unwahrheit. Ohne den thätigen Antheil dieser beiden Kräfte ist die <lb n="pwa_018.006"/> Conception unfertig: die Anschauung, wie sie von der Einbildungskraft <lb n="pwa_018.007"/> ist gestaltet worden, muss noch diese beiden Instanzen durchlaufen, <lb n="pwa_018.008"/> wenn der Process soll gewonnen werden.</p> <p><lb n="pwa_018.009"/> Das Zusammenwirken dieser drei Kräfte kann aber in zwiefacher <lb n="pwa_018.010"/> Art vor sich gehn. Entweder in ganz verhältnissmässiger Mischung, <lb n="pwa_018.011"/> so dass keine mehr, keine minder Antheil an der Conception hat, als <lb n="pwa_018.012"/> ihr gebührt und als erforderlich ist. Oder weniger verhältnissmässig, <lb n="pwa_018.013"/> so dass die eine oder die andere vorwaltet, sich hervordrängt, die <lb n="pwa_018.014"/> übrigen in ihrem Theil beeinträchtigt werden und zurücktreten müssen.</p> <p><lb n="pwa_018.015"/> Im ersteren Fall, wo alle drei Kräfte in dem rechten Ebenmass <lb n="pwa_018.016"/> einig und einträchtig zusammenwirken, wird auch eine Anschauung <lb n="pwa_018.017"/> von höherer und reinerer Schönheit gewonnen: die vollkommene Einheit <lb n="pwa_018.018"/> des Wirkenden, der dichterischen Kräfte, wird Einheit und Vollkommenheit <lb n="pwa_018.019"/> des Bewirkten, des Gedichtes, zur nothwendigen Folge haben: <lb n="pwa_018.020"/> sodann, da es keiner Kraft vergönnt ist, sich in breiteren und reicheren <lb n="pwa_018.021"/> Leistungen thätig zu zeigen, als ihr neben den anderen zukommt, so <lb n="pwa_018.022"/> wird die Einheit nicht in der Mannigfaltigkeit verschwinden, sondern <lb n="pwa_018.023"/> zugleich Einfachheit sein, das Gedicht wird, wie Horaz sagt, ein <lb n="pwa_018.024"/> simplex et unum sein; und da hier endlich der Dichter das Schöne <lb n="pwa_018.025"/> ganz so anschaut, wie es an und für sich selbst angeschaut sein will, <lb n="pwa_018.026"/> ohne dass er nach seiner Neigung und seinen Fertigkeiten bei einer <lb n="pwa_018.027"/> Seite länger verweilte als bei den andern, so wird er auch der Anschauung <lb n="pwa_018.028"/> nichts von seiner Subjectivität beimischen: er ist zwar das <lb n="pwa_018.029"/> anschauende Subject, aber die Anschauung ist ihm reines Object ohne <lb n="pwa_018.030"/> subjectiven Beigeschmack, er gewinnt eine objective Anschauung. Man <lb n="pwa_018.031"/> gelangt also bei ebenmässigem Zusammenwirken von Einbildung, Gefühl <lb n="pwa_018.032"/> und Verstand 1) zu vollkommener Einheit, 2) zur Einfachheit und <lb n="pwa_018.033"/> 3) zu reiner objectiver Anschauung. Diess Ebenmass in der Zusammenwirkung <lb n="pwa_018.034"/> und die darauf zunächst beruhende Einheit ist ein <lb n="pwa_018.035"/> characteristisches Merkmal der sogenannten classischen, also namentlich <lb n="pwa_018.036"/> der griechischen Poesie; seltener findet sich diese Einheit in den <lb n="pwa_018.037"/> Dichtungen der modernen Zeit, unter den Deutschen vorzugsweise und <lb n="pwa_018.038"/> fast ausschliesslich bei Göthe; ebenso ist auch die Einfachheit, die <lb n="pwa_018.039"/> Simplicität das hauptsächliche Kennzeichen der antiken, der classischen <lb n="pwa_018.040"/> Kunst: wir gewahren eben diese wiederum bei Göthe, und insofern <lb n="pwa_018.041"/> mag man ihn den deutschen Classiker <foreign xml:lang="grc">κατ</foreign>' <foreign xml:lang="grc">ἐξοχήν</foreign> nennen; </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [18/0036]
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Sodann, um den Process der dichterischen Conception weiter zu pwa_018.002
verfolgen, gehören neben die Einbildung noch das Gefühl und der pwa_018.003
Verstand, jedes auf seine Art prüfend, billigend oder verwerfend, das pwa_018.004
Gefühl prüfend auf Lust oder Unlust, der Verstand auf Wahrheit oder pwa_018.005
Unwahrheit. Ohne den thätigen Antheil dieser beiden Kräfte ist die pwa_018.006
Conception unfertig: die Anschauung, wie sie von der Einbildungskraft pwa_018.007
ist gestaltet worden, muss noch diese beiden Instanzen durchlaufen, pwa_018.008
wenn der Process soll gewonnen werden.
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Das Zusammenwirken dieser drei Kräfte kann aber in zwiefacher pwa_018.010
Art vor sich gehn. Entweder in ganz verhältnissmässiger Mischung, pwa_018.011
so dass keine mehr, keine minder Antheil an der Conception hat, als pwa_018.012
ihr gebührt und als erforderlich ist. Oder weniger verhältnissmässig, pwa_018.013
so dass die eine oder die andere vorwaltet, sich hervordrängt, die pwa_018.014
übrigen in ihrem Theil beeinträchtigt werden und zurücktreten müssen.
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Im ersteren Fall, wo alle drei Kräfte in dem rechten Ebenmass pwa_018.016
einig und einträchtig zusammenwirken, wird auch eine Anschauung pwa_018.017
von höherer und reinerer Schönheit gewonnen: die vollkommene Einheit pwa_018.018
des Wirkenden, der dichterischen Kräfte, wird Einheit und Vollkommenheit pwa_018.019
des Bewirkten, des Gedichtes, zur nothwendigen Folge haben: pwa_018.020
sodann, da es keiner Kraft vergönnt ist, sich in breiteren und reicheren pwa_018.021
Leistungen thätig zu zeigen, als ihr neben den anderen zukommt, so pwa_018.022
wird die Einheit nicht in der Mannigfaltigkeit verschwinden, sondern pwa_018.023
zugleich Einfachheit sein, das Gedicht wird, wie Horaz sagt, ein pwa_018.024
simplex et unum sein; und da hier endlich der Dichter das Schöne pwa_018.025
ganz so anschaut, wie es an und für sich selbst angeschaut sein will, pwa_018.026
ohne dass er nach seiner Neigung und seinen Fertigkeiten bei einer pwa_018.027
Seite länger verweilte als bei den andern, so wird er auch der Anschauung pwa_018.028
nichts von seiner Subjectivität beimischen: er ist zwar das pwa_018.029
anschauende Subject, aber die Anschauung ist ihm reines Object ohne pwa_018.030
subjectiven Beigeschmack, er gewinnt eine objective Anschauung. Man pwa_018.031
gelangt also bei ebenmässigem Zusammenwirken von Einbildung, Gefühl pwa_018.032
und Verstand 1) zu vollkommener Einheit, 2) zur Einfachheit und pwa_018.033
3) zu reiner objectiver Anschauung. Diess Ebenmass in der Zusammenwirkung pwa_018.034
und die darauf zunächst beruhende Einheit ist ein pwa_018.035
characteristisches Merkmal der sogenannten classischen, also namentlich pwa_018.036
der griechischen Poesie; seltener findet sich diese Einheit in den pwa_018.037
Dichtungen der modernen Zeit, unter den Deutschen vorzugsweise und pwa_018.038
fast ausschliesslich bei Göthe; ebenso ist auch die Einfachheit, die pwa_018.039
Simplicität das hauptsächliche Kennzeichen der antiken, der classischen pwa_018.040
Kunst: wir gewahren eben diese wiederum bei Göthe, und insofern pwa_018.041
mag man ihn den deutschen Classiker κατ' ἐξοχήν nennen;
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