Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_366.001 pwa_366.003 pwa_366.023 pwa_366.001 pwa_366.003 pwa_366.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0384" n="366"/><lb n="pwa_366.001"/> verliert. Dergleichen findet sich nicht selten in Schleiermachers Monologen, <lb n="pwa_366.002"/> bei Achim von Arnim und namentlich in Gessners Idyllen.</p> <p><lb n="pwa_366.003"/> Aus rhythmischen Gründen sind auch die mehrmaligen Wiederholungen <lb n="pwa_366.004"/> ähnlicher Wendungen zu vermeiden; sie erzeugen leicht einen <lb n="pwa_366.005"/> widrigen Gleichklang. Insbesondere gilt diess von der Anhäufung <lb n="pwa_366.006"/> mehrerer Genitive, von der Construction eines Infinitivs mit <hi rendition="#i">zu</hi> hinter <lb n="pwa_366.007"/> einem Infinitiv mit <hi rendition="#i">zu,</hi> von der Einschaltung eines Zwischensatzes in <lb n="pwa_366.008"/> einen andern Zwischensatz. Auch mehrere gleichgebaute Hauptsätze <lb n="pwa_366.009"/> auf einander folgen zu lassen, ist ein Fehler, weil dadurch der gleiche <lb n="pwa_366.010"/> syntactische Rhythmus wiederholt wird. Eine Ausnahme hiervon ist <lb n="pwa_366.011"/> nur dann gestattet, wenn ein innerer Parallelismus der Sätze stattfindet, <lb n="pwa_366.012"/> namentlich wenn die Gedanken eine Klimax bilden. Mit vollem <lb n="pwa_366.013"/> Recht sagt daher Lessing: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht, <lb n="pwa_366.014"/> mit einem mittelmässigen verfährt man gelinde, gegen einen grossen <lb n="pwa_366.015"/> ist man unerbittlich.“ Wo aber kein derartiges Verhältniss waltet, vermeidet <lb n="pwa_366.016"/> man die Gleichmässigkeit: man lässt lieber eine materielle <lb n="pwa_366.017"/> Steigerung eintreten und giebt dem letzten Theil eine grössere Ausdehnung: <lb n="pwa_366.018"/> z. B. „Der Dichter soll zwar die Einbildungskraft anregen, <lb n="pwa_366.019"/> aber nicht so, dass er die Vernunft zerrütte; er soll den Witz schärfen, <lb n="pwa_366.020"/> aber nicht so, dass die geselligen Tugenden leiden; er soll die Liebe <lb n="pwa_366.021"/> besingen, aber nicht so, dass wir ihren Ausschweifungen oder gar <lb n="pwa_366.022"/> ihren natürlichen Ausartungen Beifall zollen.“</p> <p><lb n="pwa_366.023"/> Es fragt sich nun, wie sich die im Vorhergehenden besprochene <lb n="pwa_366.024"/> Regel auf Vordersatz und Nachsatz anwenden lasse. Vordersatz und <lb n="pwa_366.025"/> Nachsatz einer Periode werden als Hebung und Senkung gesprochen; <lb n="pwa_366.026"/> im erstern steigt die Stimme, im letztern fällt sie, sinkt sie herab. <lb n="pwa_366.027"/> Und das mit vollem Rechte. Der Nebensatz ist der Auszeichnung und <lb n="pwa_366.028"/> Hervorhebung wegen vorangestellt und trägt darum auch den Hauptton, <lb n="pwa_366.029"/> während der Hauptsatz die Senkung bildet. Dieses Verhältniss <lb n="pwa_366.030"/> erklärt sich durch Vergleichung mit den zusammengesetzten Substantiven: <lb n="pwa_366.031"/> da bildet der zweite Bestandtheil die Grundlage des Ganzen; <lb n="pwa_366.032"/> der erste Theil aber, der jenen nur näher bestimmen hilft, trägt den <lb n="pwa_366.033"/> Hochton, z. B. Kirchthurm. So erhält denn auch der Nebensatz, der <lb n="pwa_366.034"/> durch eine Hauptinversion zum Vordersatz geworden ist, den stärkern <lb n="pwa_366.035"/> Ton, während der Nachsatz in die Senkung fällt. In diesem Verhältniss <lb n="pwa_366.036"/> findet auch das Gesetz seine Erklärung, dass man Nachsätze nicht <lb n="pwa_366.037"/> gern aus mehreren an einander gereihten Gliedern bestehn lässt; denn <lb n="pwa_366.038"/> es ist unschön, wenn die Senkung einer Periode aus mehreren Theilen <lb n="pwa_366.039"/> besteht, so dass sich gleichsam ein dactylischer Rhythmus ergiebt. <lb n="pwa_366.040"/> Darum ist folgende Periode von Fr. H. Jacobi nicht mustergiltig: „Wenn <lb n="pwa_366.041"/> sich der Andrang übler Laune dir verkündigt, wenn die Miene, die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [366/0384]
pwa_366.001
verliert. Dergleichen findet sich nicht selten in Schleiermachers Monologen, pwa_366.002
bei Achim von Arnim und namentlich in Gessners Idyllen.
pwa_366.003
Aus rhythmischen Gründen sind auch die mehrmaligen Wiederholungen pwa_366.004
ähnlicher Wendungen zu vermeiden; sie erzeugen leicht einen pwa_366.005
widrigen Gleichklang. Insbesondere gilt diess von der Anhäufung pwa_366.006
mehrerer Genitive, von der Construction eines Infinitivs mit zu hinter pwa_366.007
einem Infinitiv mit zu, von der Einschaltung eines Zwischensatzes in pwa_366.008
einen andern Zwischensatz. Auch mehrere gleichgebaute Hauptsätze pwa_366.009
auf einander folgen zu lassen, ist ein Fehler, weil dadurch der gleiche pwa_366.010
syntactische Rhythmus wiederholt wird. Eine Ausnahme hiervon ist pwa_366.011
nur dann gestattet, wenn ein innerer Parallelismus der Sätze stattfindet, pwa_366.012
namentlich wenn die Gedanken eine Klimax bilden. Mit vollem pwa_366.013
Recht sagt daher Lessing: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht, pwa_366.014
mit einem mittelmässigen verfährt man gelinde, gegen einen grossen pwa_366.015
ist man unerbittlich.“ Wo aber kein derartiges Verhältniss waltet, vermeidet pwa_366.016
man die Gleichmässigkeit: man lässt lieber eine materielle pwa_366.017
Steigerung eintreten und giebt dem letzten Theil eine grössere Ausdehnung: pwa_366.018
z. B. „Der Dichter soll zwar die Einbildungskraft anregen, pwa_366.019
aber nicht so, dass er die Vernunft zerrütte; er soll den Witz schärfen, pwa_366.020
aber nicht so, dass die geselligen Tugenden leiden; er soll die Liebe pwa_366.021
besingen, aber nicht so, dass wir ihren Ausschweifungen oder gar pwa_366.022
ihren natürlichen Ausartungen Beifall zollen.“
pwa_366.023
Es fragt sich nun, wie sich die im Vorhergehenden besprochene pwa_366.024
Regel auf Vordersatz und Nachsatz anwenden lasse. Vordersatz und pwa_366.025
Nachsatz einer Periode werden als Hebung und Senkung gesprochen; pwa_366.026
im erstern steigt die Stimme, im letztern fällt sie, sinkt sie herab. pwa_366.027
Und das mit vollem Rechte. Der Nebensatz ist der Auszeichnung und pwa_366.028
Hervorhebung wegen vorangestellt und trägt darum auch den Hauptton, pwa_366.029
während der Hauptsatz die Senkung bildet. Dieses Verhältniss pwa_366.030
erklärt sich durch Vergleichung mit den zusammengesetzten Substantiven: pwa_366.031
da bildet der zweite Bestandtheil die Grundlage des Ganzen; pwa_366.032
der erste Theil aber, der jenen nur näher bestimmen hilft, trägt den pwa_366.033
Hochton, z. B. Kirchthurm. So erhält denn auch der Nebensatz, der pwa_366.034
durch eine Hauptinversion zum Vordersatz geworden ist, den stärkern pwa_366.035
Ton, während der Nachsatz in die Senkung fällt. In diesem Verhältniss pwa_366.036
findet auch das Gesetz seine Erklärung, dass man Nachsätze nicht pwa_366.037
gern aus mehreren an einander gereihten Gliedern bestehn lässt; denn pwa_366.038
es ist unschön, wenn die Senkung einer Periode aus mehreren Theilen pwa_366.039
besteht, so dass sich gleichsam ein dactylischer Rhythmus ergiebt. pwa_366.040
Darum ist folgende Periode von Fr. H. Jacobi nicht mustergiltig: „Wenn pwa_366.041
sich der Andrang übler Laune dir verkündigt, wenn die Miene, die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |