Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_377.001 pwa_377.027 pwa_377.001 pwa_377.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0395" n="377"/><lb n="pwa_377.001"/> Geruch, Geschmack nur Eigenschaften an Dingen. Gesicht und Gehör <lb n="pwa_377.002"/> nun, als die feineren und bewussteren, stehn auch allein den Eindrücken <lb n="pwa_377.003"/> des Schönen offen; für die anderen, für die niederen und <lb n="pwa_377.004"/> gröberen Sinne giebt es nichts Schönes: sie unterscheiden wohl zwischen <lb n="pwa_377.005"/> hart und weich, zwischen süss und bitter; zwischen schön und unschön <lb n="pwa_377.006"/> aber nicht. Gesicht und Gehör gehn auch allein in die Einbildung <lb n="pwa_377.007"/> über: man kann sich in der Stille der Seele ganz wohl einbilden und <lb n="pwa_377.008"/> man kann träumen, dass man etwas sehe oder höre; Gefühl dagegen <lb n="pwa_377.009"/> und Geruch und Geschmack bestehn nur in der groben und handgreiflichen <lb n="pwa_377.010"/> Wirklichkeit, in der Einbildung und im Traume dagegen <lb n="pwa_377.011"/> nicht, ausser etwa bei einem irgendwie krankhaften Zustande der <lb n="pwa_377.012"/> Seele oder des Leibes. Mithin giebt es für die Einbildungskraft keine <lb n="pwa_377.013"/> andere sinnliche Wahrnehmung als die des Sehens und des Hörens, <lb n="pwa_377.014"/> und wiederum sind es nur das Gesicht und das Gehör, für die es <lb n="pwa_377.015"/> ein Schönes und ein Unschönes, für die es auch eine Darstellung des <lb n="pwa_377.016"/> Schönen, eine Kunst giebt, nicht aber z. B. für die Zunge, und es <lb n="pwa_377.017"/> ist eine der ungeschicktesten Uebersetzungen gewesen, das griechische <lb n="pwa_377.018"/> <foreign xml:lang="grc">αἴσθησις</foreign> im Französischen mit <hi rendition="#i">goût,</hi> im Deutschen mit <hi rendition="#i">Geschmack</hi> <lb n="pwa_377.019"/> zu übersetzen und so nun von einem guten Geschmack in Kunstwerken <lb n="pwa_377.020"/> zu sprechen. Aus alle dem ergiebt es sich leicht und einfach, dass <lb n="pwa_377.021"/> in der poetischen Rede nur diejenige Sinnlichkeit des Ausdruckes <lb n="pwa_377.022"/> zulässig sei, die auf Gesicht und Gehör sich beruft und diese beiden <lb n="pwa_377.023"/> Sinne für die Einbildung in Anspruch nimmt, wogegen alle Sinnlichkeit, <lb n="pwa_377.024"/> die sich an Wahrnehmungen des Gefühls, des Geruches, des <lb n="pwa_377.025"/> Geschmackes wendet, untauglich ist für die Darstellung des Schönen <lb n="pwa_377.026"/> und untauglich für die schaffende Thätigkeit der Einbildungskraft.</p> <p><lb n="pwa_377.027"/> Eben dieser Unterschied zwischen höheren und niederen Sinnen <lb n="pwa_377.028"/> ist es auch, auf den sich für die meisten Fälle der Unterschied zurückführen <lb n="pwa_377.029"/> lässt, den man zwischen edelm und unedelm Ausdruck zu <lb n="pwa_377.030"/> machen pflegt; ist ein Ausdruck nicht schon deshalb unedel, weil er <lb n="pwa_377.031"/> vielleicht einer plumpen oder sittlich unsaubern Art des Empfindens <lb n="pwa_377.032"/> angehört, so wird er es deshalb sein, weil er sich nur auf die niedern <lb n="pwa_377.033"/> Sinne gründet, die dem Schönen verschlossen sind, und die <lb n="pwa_377.034"/> nicht in die Einbildung übergehn. Man lehrt z. B., es sei unedel, die <lb n="pwa_377.035"/> beschneiten und bereiften Bäume <hi rendition="#i">überzuckert</hi> zu nennen; es ist aber <lb n="pwa_377.036"/> nicht wohl abzusehen, was hier das Edle und Unedle sollen, Begriffe, <lb n="pwa_377.037"/> die durchaus ethischer Natur sind; sagt man dagegen, der Ausdruck <lb n="pwa_377.038"/> sei unpoetisch oder geschmacklos, weil er sich auf den niedern Sinn <lb n="pwa_377.039"/> des Geschmackes beziehe, so wird man es richtiger aufgefasst haben. <lb n="pwa_377.040"/> So sei es auch unedel, wenn man von einem Thiere sage, es <hi rendition="#i">verrecke,</hi> <lb n="pwa_377.041"/> oder wenn man die Gebeine eines Verstorbenen nicht Gebeine </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [377/0395]
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Geruch, Geschmack nur Eigenschaften an Dingen. Gesicht und Gehör pwa_377.002
nun, als die feineren und bewussteren, stehn auch allein den Eindrücken pwa_377.003
des Schönen offen; für die anderen, für die niederen und pwa_377.004
gröberen Sinne giebt es nichts Schönes: sie unterscheiden wohl zwischen pwa_377.005
hart und weich, zwischen süss und bitter; zwischen schön und unschön pwa_377.006
aber nicht. Gesicht und Gehör gehn auch allein in die Einbildung pwa_377.007
über: man kann sich in der Stille der Seele ganz wohl einbilden und pwa_377.008
man kann träumen, dass man etwas sehe oder höre; Gefühl dagegen pwa_377.009
und Geruch und Geschmack bestehn nur in der groben und handgreiflichen pwa_377.010
Wirklichkeit, in der Einbildung und im Traume dagegen pwa_377.011
nicht, ausser etwa bei einem irgendwie krankhaften Zustande der pwa_377.012
Seele oder des Leibes. Mithin giebt es für die Einbildungskraft keine pwa_377.013
andere sinnliche Wahrnehmung als die des Sehens und des Hörens, pwa_377.014
und wiederum sind es nur das Gesicht und das Gehör, für die es pwa_377.015
ein Schönes und ein Unschönes, für die es auch eine Darstellung des pwa_377.016
Schönen, eine Kunst giebt, nicht aber z. B. für die Zunge, und es pwa_377.017
ist eine der ungeschicktesten Uebersetzungen gewesen, das griechische pwa_377.018
αἴσθησις im Französischen mit goût, im Deutschen mit Geschmack pwa_377.019
zu übersetzen und so nun von einem guten Geschmack in Kunstwerken pwa_377.020
zu sprechen. Aus alle dem ergiebt es sich leicht und einfach, dass pwa_377.021
in der poetischen Rede nur diejenige Sinnlichkeit des Ausdruckes pwa_377.022
zulässig sei, die auf Gesicht und Gehör sich beruft und diese beiden pwa_377.023
Sinne für die Einbildung in Anspruch nimmt, wogegen alle Sinnlichkeit, pwa_377.024
die sich an Wahrnehmungen des Gefühls, des Geruches, des pwa_377.025
Geschmackes wendet, untauglich ist für die Darstellung des Schönen pwa_377.026
und untauglich für die schaffende Thätigkeit der Einbildungskraft.
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Eben dieser Unterschied zwischen höheren und niederen Sinnen pwa_377.028
ist es auch, auf den sich für die meisten Fälle der Unterschied zurückführen pwa_377.029
lässt, den man zwischen edelm und unedelm Ausdruck zu pwa_377.030
machen pflegt; ist ein Ausdruck nicht schon deshalb unedel, weil er pwa_377.031
vielleicht einer plumpen oder sittlich unsaubern Art des Empfindens pwa_377.032
angehört, so wird er es deshalb sein, weil er sich nur auf die niedern pwa_377.033
Sinne gründet, die dem Schönen verschlossen sind, und die pwa_377.034
nicht in die Einbildung übergehn. Man lehrt z. B., es sei unedel, die pwa_377.035
beschneiten und bereiften Bäume überzuckert zu nennen; es ist aber pwa_377.036
nicht wohl abzusehen, was hier das Edle und Unedle sollen, Begriffe, pwa_377.037
die durchaus ethischer Natur sind; sagt man dagegen, der Ausdruck pwa_377.038
sei unpoetisch oder geschmacklos, weil er sich auf den niedern Sinn pwa_377.039
des Geschmackes beziehe, so wird man es richtiger aufgefasst haben. pwa_377.040
So sei es auch unedel, wenn man von einem Thiere sage, es verrecke, pwa_377.041
oder wenn man die Gebeine eines Verstorbenen nicht Gebeine
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