Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_403.001 pwa_403.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0421" n="403"/><lb n="pwa_403.001"/> Aber schon die griechischen Rhetoren haben den Begriff der <lb n="pwa_403.002"/> Ironie auf diejenige Verstellung in der Rede eingeschränkt, die von <lb n="pwa_403.003"/> dem, was man verstanden wissen will, das Gegentheilige und dadurch <lb n="pwa_403.004"/> Ueberraschende sagt. Also ist es z. B. und namentlich Ironie, wenn <lb n="pwa_403.005"/> man Lob ausspricht und Tadel meint, wenn man an einem Geizhals <lb n="pwa_403.006"/> die Wohlthätigkeit, an einem Verschwender die Sparsamkeit rühmt. <lb n="pwa_403.007"/> In diesem Sinne greift die Ironie über die Stilistik hinaus in die <lb n="pwa_403.008"/> weitere Lebensanschauung, in die bildende Kunst und in die Sprachschöpfung. <lb n="pwa_403.009"/> Im deutschen Mittelalter war es gewöhnlich, eine Schlacht <lb n="pwa_403.010"/> als eine Disputation oder einen Process aufzufassen, wie diess im <lb n="pwa_403.011"/> Ludwigsleich vom Jahre 881 (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 106, 13) der Fall ist, oder auch <lb n="pwa_403.012"/> als ein Gastmal, ein Weinschenken und Bewirthen (ebenda 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 106, 33); <lb n="pwa_403.013"/> als Spiel und Tanz wird der blutige Kampf im Nibelungenliede verstanden, <lb n="pwa_403.014"/> Str. 1939, wo es von dem Helden und Spielmann Volker <lb n="pwa_403.015"/> heisst: „Sîn leiche lûtent übele, sîn züge sint rôt: jâ vellent sîne doene <lb n="pwa_403.016"/> manegen helt tôt; Str. 1943 Sîn videlboge snîdet durch den herten stâl, <lb n="pwa_403.017"/> und Str. 1944 Sîne leiche hellent durch helm und durch rant.“ Im Rosengarten <lb n="pwa_403.018"/> endlich (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 879, 35), im Sempacher Liede (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 1108, 8; <lb n="pwa_403.019"/> 1113, 12; 1118, 27), im Hildebrandsliede, bei Kasper von der Rön (LB. <lb n="pwa_403.020"/> 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 1244, 33) wird der Kampf mit dem Feinde als ein Beichtehören, dessen <lb n="pwa_403.021"/> Tödtung als eine Ertheilung von Segen und Ablass gedacht. Ueberall <lb n="pwa_403.022"/> wird der Eindruck der Ironie dadurch geschärft, dass der Contrast <lb n="pwa_403.023"/> zugleich etwas Erhabenes und etwas Lächerliches hat. Auch in die <lb n="pwa_403.024"/> bildende Kunst griff die Ironie: ich erinnere bloss an den Todtentanz <lb n="pwa_403.025"/> (Kl. Schrift. 1, 302). Auf dem Gebiet der Sprache finden wir sie in der <lb n="pwa_403.026"/> Namengebung: ich denke hier an ironisch erfundene Namen in imperativischer <lb n="pwa_403.027"/> Form wie Saufaus, Störenfried, Taugenichts, Springinsfeld, <lb n="pwa_403.028"/> womit von solchen Leuten grade das Gegentheil dessen verlangt wird, <lb n="pwa_403.029"/> was der eigentliche Wortsinn besagt (German. 5, 308). In der Litteratur <lb n="pwa_403.030"/> wird die Ironie viel gebraucht, aber auch viel missbraucht. <lb n="pwa_403.031"/> Gewöhnlich ist sie mehr Figur als Tropus, oder gar zu sehr Tropus, <lb n="pwa_403.032"/> d. h. entweder sieht man es der ironischen Darstellung gar zu sehr <lb n="pwa_403.033"/> im ersten Augenblick an, dass Alles nur uneigentlich, und dass man <lb n="pwa_403.034"/> Alles von vorn herein Wort für Wort ins Gegentheil zu übersetzen <lb n="pwa_403.035"/> habe; es ist dann also die Ironie eine blosse Veränderung des Ausdrucks, <lb n="pwa_403.036"/> nicht aber auch der Vorstellung; oder aber man spürt ihr die <lb n="pwa_403.037"/> Uneigentlichkeit gar nicht an, man merkt es gar nicht oder erst zu <lb n="pwa_403.038"/> spät, dass die Vorstellungen von ihrem rechten und eigentlichen Platze <lb n="pwa_403.039"/> an einen falschen und entgegengesetzten gerückt seien, und man nimmt <lb n="pwa_403.040"/> Alles für baaren, trockenen Ernst. Beides ist verfehlt: im ersten <lb n="pwa_403.041"/> Falle ist die Ironie müssig, frostig, langweilig; im zweiten irreführend </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [403/0421]
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Aber schon die griechischen Rhetoren haben den Begriff der pwa_403.002
Ironie auf diejenige Verstellung in der Rede eingeschränkt, die von pwa_403.003
dem, was man verstanden wissen will, das Gegentheilige und dadurch pwa_403.004
Ueberraschende sagt. Also ist es z. B. und namentlich Ironie, wenn pwa_403.005
man Lob ausspricht und Tadel meint, wenn man an einem Geizhals pwa_403.006
die Wohlthätigkeit, an einem Verschwender die Sparsamkeit rühmt. pwa_403.007
In diesem Sinne greift die Ironie über die Stilistik hinaus in die pwa_403.008
weitere Lebensanschauung, in die bildende Kunst und in die Sprachschöpfung. pwa_403.009
Im deutschen Mittelalter war es gewöhnlich, eine Schlacht pwa_403.010
als eine Disputation oder einen Process aufzufassen, wie diess im pwa_403.011
Ludwigsleich vom Jahre 881 (LB. 14, 106, 13) der Fall ist, oder auch pwa_403.012
als ein Gastmal, ein Weinschenken und Bewirthen (ebenda 14, 106, 33); pwa_403.013
als Spiel und Tanz wird der blutige Kampf im Nibelungenliede verstanden, pwa_403.014
Str. 1939, wo es von dem Helden und Spielmann Volker pwa_403.015
heisst: „Sîn leiche lûtent übele, sîn züge sint rôt: jâ vellent sîne doene pwa_403.016
manegen helt tôt; Str. 1943 Sîn videlboge snîdet durch den herten stâl, pwa_403.017
und Str. 1944 Sîne leiche hellent durch helm und durch rant.“ Im Rosengarten pwa_403.018
endlich (LB. 14, 879, 35), im Sempacher Liede (LB. 14, 1108, 8; pwa_403.019
1113, 12; 1118, 27), im Hildebrandsliede, bei Kasper von der Rön (LB. pwa_403.020
14, 1244, 33) wird der Kampf mit dem Feinde als ein Beichtehören, dessen pwa_403.021
Tödtung als eine Ertheilung von Segen und Ablass gedacht. Ueberall pwa_403.022
wird der Eindruck der Ironie dadurch geschärft, dass der Contrast pwa_403.023
zugleich etwas Erhabenes und etwas Lächerliches hat. Auch in die pwa_403.024
bildende Kunst griff die Ironie: ich erinnere bloss an den Todtentanz pwa_403.025
(Kl. Schrift. 1, 302). Auf dem Gebiet der Sprache finden wir sie in der pwa_403.026
Namengebung: ich denke hier an ironisch erfundene Namen in imperativischer pwa_403.027
Form wie Saufaus, Störenfried, Taugenichts, Springinsfeld, pwa_403.028
womit von solchen Leuten grade das Gegentheil dessen verlangt wird, pwa_403.029
was der eigentliche Wortsinn besagt (German. 5, 308). In der Litteratur pwa_403.030
wird die Ironie viel gebraucht, aber auch viel missbraucht. pwa_403.031
Gewöhnlich ist sie mehr Figur als Tropus, oder gar zu sehr Tropus, pwa_403.032
d. h. entweder sieht man es der ironischen Darstellung gar zu sehr pwa_403.033
im ersten Augenblick an, dass Alles nur uneigentlich, und dass man pwa_403.034
Alles von vorn herein Wort für Wort ins Gegentheil zu übersetzen pwa_403.035
habe; es ist dann also die Ironie eine blosse Veränderung des Ausdrucks, pwa_403.036
nicht aber auch der Vorstellung; oder aber man spürt ihr die pwa_403.037
Uneigentlichkeit gar nicht an, man merkt es gar nicht oder erst zu pwa_403.038
spät, dass die Vorstellungen von ihrem rechten und eigentlichen Platze pwa_403.039
an einen falschen und entgegengesetzten gerückt seien, und man nimmt pwa_403.040
Alles für baaren, trockenen Ernst. Beides ist verfehlt: im ersten pwa_403.041
Falle ist die Ironie müssig, frostig, langweilig; im zweiten irreführend
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