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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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und gegen die Deutlichkeit und Anschaulichkeit verstossend. Das pwa_404.002
rechte Mass erhält den Leser in einem Schwanken zwischen Wissen pwa_404.003
und Nichtwissen, so zu sagen zwischen Mitlügen und Belogenwerden, pwa_404.004
das für Verstand und Einbildung gleich viel Reiz hat. Indessen nur pwa_404.005
Wenigen ist dieses Mass gegeben; Rabener z. B., in seinen Satiren, pwa_404.006
besass es: darum gefällt er sich aber auch in der Ironie beinahe bis pwa_404.007
zum Ueberdruss, er kannte kaum eine andere Form des Spottes als pwa_404.008
die Ironie. Vgl. LB. 3, 2, 47 fg. 55 fg. Noch ein Meister in der Ironie pwa_404.009
ist Jean Paul: als Probe diene ein kleiner, in den Quintus Fixlein pwa_404.010
eingeschalteter Excurs über den Aemterverkauf (Sämmtl. Werke 1826 pwa_404.011
Bd. 4, 104) und Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben (Komischer pwa_404.012
Anhang zum Titan Bd. 31, 46). Als Muster der Ironie verdient auch die pwa_404.013
Rede hervorgehoben zu werden, die im dritten Acte von Shakspeares pwa_404.014
Julius Cäsar Antonius an das versammelte Volk hält; hier finden wir pwa_404.015
nichts als Anerkennung und Lob der Mörder Cäsars, aber Alles ist pwa_404.016
Ironie, und der Zweck und der Erfolg dieser Rede ist denn auch, pwa_404.017
dass Antonius das Volk gegen Brutus und die Uebrigen und für sich pwa_404.018
gewinnt.

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Eine Abart der Ironie ist das Oxymoron (oxumoron), d. h. pwa_404.020
eigentlich spitze, scharfe Dummheit. Man nennt so die Zusammenstellung pwa_404.021
zweier Worte, wobei das eine thörichter, unverständiger pwa_404.022
Weise grade das Gegentheil von dem zu sagen scheint, was das andere pwa_404.023
fordert, aber nur zu sagen scheint, so dass keine wirkliche contradictio pwa_404.024
in adjecto stattfindet: in diesem Ueberraschenden des scheinbaren pwa_404.025
Widerspruchs liegt denn das oxu, das Spitzige, Witzige. Z. B. pwa_404.026
Junger Greis, alter Jüngling; armer Dietreich Nibel. 2256. Ein schönes pwa_404.027
Beispiel bietet Hebels Vergänglichkeit (LB. 2, 1373, 32): "S Hus würd pwa_404.028
alt und wüest. Der Rege wäscht ders wüester alli Nacht, Und d Sunne pwa_404.029
bleicht ders schwärzer alli Tag."

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Auch der Euphemismus (euphemismos) kann als eine Abart der Ironie pwa_404.031
betrachtet werden, insofern man nicht bloss die spöttisch-satirische, sondern pwa_404.032
mit einer Erweiterung des Ausdruckes jegliche Verkehrung ins Gegentheil pwa_404.033
Ironie nennen will. Der Euphemismus weicht dem Anstössigen, dem pwa_404.034
Bösen, dem Gehassten und Gefürchteten in Vorstellung und Darstellung pwa_404.035
aus und nennt aus Zucht und Schonung und Furcht nur das gegentheilige pwa_404.036
Gute. Der Aberglaube ist auch eine Art Poesie und in dieser Art ist pwa_404.037
der Euphemismus recht eigentlich zu Hause. Ein bekanntes Beispiel aus pwa_404.038
dem griechischen Heidenthum ist der Gebrauch, die Erinyen Eumeniden, pwa_404.039
d. h. die Gnädigen, die Huldvollen zu nennen; ebenso heisst die pwa_404.040
grauenvolle Nacht nicht nux, sondern euphrone, die wohlwollende; die pwa_404.041
Wolfsmilch, griechisch euphorbion, lateinisch euphorbia, d. h. gute

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und gegen die Deutlichkeit und Anschaulichkeit verstossend. Das pwa_404.002
rechte Mass erhält den Leser in einem Schwanken zwischen Wissen pwa_404.003
und Nichtwissen, so zu sagen zwischen Mitlügen und Belogenwerden, pwa_404.004
das für Verstand und Einbildung gleich viel Reiz hat. Indessen nur pwa_404.005
Wenigen ist dieses Mass gegeben; Rabener z. B., in seinen Satiren, pwa_404.006
besass es: darum gefällt er sich aber auch in der Ironie beinahe bis pwa_404.007
zum Ueberdruss, er kannte kaum eine andere Form des Spottes als pwa_404.008
die Ironie. Vgl. LB. 3, 2, 47 fg. 55 fg. Noch ein Meister in der Ironie pwa_404.009
ist Jean Paul: als Probe diene ein kleiner, in den Quintus Fixlein pwa_404.010
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Bd. 4, 104) und Hafteldorns Idylle auf das vornehme Leben (Komischer pwa_404.012
Anhang zum Titan Bd. 31, 46). Als Muster der Ironie verdient auch die pwa_404.013
Rede hervorgehoben zu werden, die im dritten Acte von Shakspeares pwa_404.014
Julius Cäsar Antonius an das versammelte Volk hält; hier finden wir pwa_404.015
nichts als Anerkennung und Lob der Mörder Cäsars, aber Alles ist pwa_404.016
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dass Antonius das Volk gegen Brutus und die Uebrigen und für sich pwa_404.018
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Eine Abart der Ironie ist das Oxymoron (ὀξύμωρον), d. h. pwa_404.020
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Junger Greis, alter Jüngling; armer Dietrîch Nibel. 2256. Ein schönes pwa_404.027
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alt und wüest. Der Rege wäscht ders wüester alli Nacht, Und d Sunne pwa_404.029
bleicht ders schwärzer alli Tag.“

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Auch der Euphemismus (εὐφημισμός) kann als eine Abart der Ironie pwa_404.031
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/422>, abgerufen am 22.11.2024.