Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_405.001 pwa_405.025 pwa_405.001 pwa_405.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0423" n="405"/><lb n="pwa_405.001"/> Nahrung, von <foreign xml:lang="grc">φορβιά, φορβή</foreign>, Futter, Weide; die linke Hand <foreign xml:lang="grc">εὐώνυμος</foreign>, <lb n="pwa_405.002"/> die gutnamige, obgleich sie gar nicht boni ominis war: denn <lb n="pwa_405.003"/> auch den Griechen kamen die bösen Vorzeichen von der linken Seite; <lb n="pwa_405.004"/> vielleicht ist auch der gewöhnliche Name des Linken, <foreign xml:lang="grc">ἀριστερός</foreign>, ein <lb n="pwa_405.005"/> Euphemismus, falls er mit <foreign xml:lang="grc">ἄριστος</foreign>, der beste, zusammenhängt. Als <lb n="pwa_405.006"/> euphemistische Verwünschungen brauchten die Griechen <foreign xml:lang="grc">εἰς ὀλβίαν, εἰς</foreign> <lb n="pwa_405.007"/> <foreign xml:lang="grc">μακαρίαν</foreign>, grade wie auch in der altdeutschen Sprache <hi rendition="#i">sælic</hi> im Sinne <lb n="pwa_405.008"/> von <hi rendition="#i">verwünscht</hi> vorkommt (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 464, 38; 636, 37). Sogar die Worte <lb n="pwa_405.009"/> <foreign xml:lang="grc">εὔφημος</foreign> und <foreign xml:lang="grc">εὐφημία</foreign> selbst werden euphemistisch angewandt statt <lb n="pwa_405.010"/> <foreign xml:lang="grc">δύσφημος</foreign> und <foreign xml:lang="grc">δυσφημία</foreign>, wo man eine böse Vorbedeutung meint. <lb n="pwa_405.011"/> Auf einem Euphemismus beruht bei den Römern der Name der Todesgöttinnen, <lb n="pwa_405.012"/> <hi rendition="#i">Parcae,</hi> d. h. die Schonenden, und nach Procopius (Bell. <lb n="pwa_405.013"/> Gotth. 1, 15) wurde der eigentliche Name <hi rendition="#i">Maleventum</hi> des Omens wegen <lb n="pwa_405.014"/> gegen <hi rendition="#i">Beneventum</hi> vertauscht. Derselbe Euphemismus des Aberglaubens <lb n="pwa_405.015"/> ist es, wenn die drei bösen und gefährlichen Thiere, der Wolf, <lb n="pwa_405.016"/> der Fuchs und der Bär, bei vielen Völkern wo möglich nie mit ihren <lb n="pwa_405.017"/> eigentlichen Namen, sondern mit andern Appellativen oder gar mit <lb n="pwa_405.018"/> nominibus propriis belegt werden. Im sechzehnten Jahrhundert hiess <lb n="pwa_405.019"/> der Wolf bei den Deutschen Hölzing; die Schweden nennen den Fuchs <lb n="pwa_405.020"/> Waldgänger, den Wolf Goldbein, den Bär Süssfuss oder Grossvater <lb n="pwa_405.021"/> u. dgl. Und so mögen auch die Eigennamen der Thiersage, Reinhart, <lb n="pwa_405.022"/> Isengrin, Braun, ihren Grund nicht bloss in dem epischen Triebe zu <lb n="pwa_405.023"/> menschlicher Benennung, sondern auch in abergläubischer Scheu ihren <lb n="pwa_405.024"/> Grund haben. Vgl. Kl. Schrift. 2, 214.</p> <p><lb n="pwa_405.025"/> Es ist vorher gesagt worden, diese Tropen zeigten sich auch in <lb n="pwa_405.026"/> der gewöhnlichen Alltagssprache, und das gilt namentlich vom Euphemismus. <lb n="pwa_405.027"/> Denn im Grunde sind ja unsere meisten Höflichkeitsreden <lb n="pwa_405.028"/> nichts oder häufig nichts als blosse Euphemismen: vgl. Rabener, Versuch <lb n="pwa_405.029"/> eines deutschen Wörterbuchs LB. 3, 2, 47 (über das Wort <hi rendition="#i">Compliment</hi>). <lb n="pwa_405.030"/> Und so ist es von jeher gewesen; ein altes Beispiel von <lb n="pwa_405.031"/> Höflichkeitseuphemismus findet sich schon in der Sanctgallischen <lb n="pwa_405.032"/> Rhetorik LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 136: Item per contrarium intelliguntur sententiae ut <lb n="pwa_405.033"/> in suetudine latinorum interrogantibus „quaesivit nos aliquis?“ respondetur <lb n="pwa_405.034"/> „bona fortuna“ i. Hel unde salida, et intelligitur „nemo,“ quod <lb n="pwa_405.035"/> durum esset i. unminnesam ze sprechenne. Similiter teutonice postulantibus <lb n="pwa_405.036"/> obsonia promittimus sic: „Alles liebes genuoge,“ et intelligitur <lb n="pwa_405.037"/> per contrarium propter gravitatem vocis. So werden z. B. auch <hi rendition="#i">hina <lb n="pwa_405.038"/> wesan</hi> euphemistisch statt sterben, <hi rendition="#i">hinafart</hi> statt Tod gebraucht. Gern <lb n="pwa_405.039"/> verbindet sich der Euphemismus der Alltagssprache mit dem Wortspiel, <lb n="pwa_405.040"/> und dann wird er eben nur ein Vermeiden des eigentlichen Ausdruckes, <lb n="pwa_405.041"/> ohne diesen darum in das Gegentheil zu verändern. Solche euphemistische </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [405/0423]
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Nahrung, von φορβιά, φορβή, Futter, Weide; die linke Hand εὐώνυμος, pwa_405.002
die gutnamige, obgleich sie gar nicht boni ominis war: denn pwa_405.003
auch den Griechen kamen die bösen Vorzeichen von der linken Seite; pwa_405.004
vielleicht ist auch der gewöhnliche Name des Linken, ἀριστερός, ein pwa_405.005
Euphemismus, falls er mit ἄριστος, der beste, zusammenhängt. Als pwa_405.006
euphemistische Verwünschungen brauchten die Griechen εἰς ὀλβίαν, εἰς pwa_405.007
μακαρίαν, grade wie auch in der altdeutschen Sprache sælic im Sinne pwa_405.008
von verwünscht vorkommt (LB. 14, 464, 38; 636, 37). Sogar die Worte pwa_405.009
εὔφημος und εὐφημία selbst werden euphemistisch angewandt statt pwa_405.010
δύσφημος und δυσφημία, wo man eine böse Vorbedeutung meint. pwa_405.011
Auf einem Euphemismus beruht bei den Römern der Name der Todesgöttinnen, pwa_405.012
Parcae, d. h. die Schonenden, und nach Procopius (Bell. pwa_405.013
Gotth. 1, 15) wurde der eigentliche Name Maleventum des Omens wegen pwa_405.014
gegen Beneventum vertauscht. Derselbe Euphemismus des Aberglaubens pwa_405.015
ist es, wenn die drei bösen und gefährlichen Thiere, der Wolf, pwa_405.016
der Fuchs und der Bär, bei vielen Völkern wo möglich nie mit ihren pwa_405.017
eigentlichen Namen, sondern mit andern Appellativen oder gar mit pwa_405.018
nominibus propriis belegt werden. Im sechzehnten Jahrhundert hiess pwa_405.019
der Wolf bei den Deutschen Hölzing; die Schweden nennen den Fuchs pwa_405.020
Waldgänger, den Wolf Goldbein, den Bär Süssfuss oder Grossvater pwa_405.021
u. dgl. Und so mögen auch die Eigennamen der Thiersage, Reinhart, pwa_405.022
Isengrin, Braun, ihren Grund nicht bloss in dem epischen Triebe zu pwa_405.023
menschlicher Benennung, sondern auch in abergläubischer Scheu ihren pwa_405.024
Grund haben. Vgl. Kl. Schrift. 2, 214.
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Es ist vorher gesagt worden, diese Tropen zeigten sich auch in pwa_405.026
der gewöhnlichen Alltagssprache, und das gilt namentlich vom Euphemismus. pwa_405.027
Denn im Grunde sind ja unsere meisten Höflichkeitsreden pwa_405.028
nichts oder häufig nichts als blosse Euphemismen: vgl. Rabener, Versuch pwa_405.029
eines deutschen Wörterbuchs LB. 3, 2, 47 (über das Wort Compliment). pwa_405.030
Und so ist es von jeher gewesen; ein altes Beispiel von pwa_405.031
Höflichkeitseuphemismus findet sich schon in der Sanctgallischen pwa_405.032
Rhetorik LB. 14, 136: Item per contrarium intelliguntur sententiae ut pwa_405.033
in suetudine latinorum interrogantibus „quaesivit nos aliquis?“ respondetur pwa_405.034
„bona fortuna“ i. Hel unde salida, et intelligitur „nemo,“ quod pwa_405.035
durum esset i. unminnesam ze sprechenne. Similiter teutonice postulantibus pwa_405.036
obsonia promittimus sic: „Alles liebes genuoge,“ et intelligitur pwa_405.037
per contrarium propter gravitatem vocis. So werden z. B. auch hina pwa_405.038
wesan euphemistisch statt sterben, hinafart statt Tod gebraucht. Gern pwa_405.039
verbindet sich der Euphemismus der Alltagssprache mit dem Wortspiel, pwa_405.040
und dann wird er eben nur ein Vermeiden des eigentlichen Ausdruckes, pwa_405.041
ohne diesen darum in das Gegentheil zu verändern. Solche euphemistische
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