Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_420.001 pwa_420.023 pwa_420.032 pwa_420.001 pwa_420.023 pwa_420.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0438" n="420"/><lb n="pwa_420.001"/> mehr so schwer, und hat auch der Leser einmal etwas vergessen, so <lb n="pwa_420.002"/> kann er ja allenfalls rückwärts nachschlagen. Indessen, es ist nur <lb n="pwa_420.003"/> die moderne Kunstpoesie, die von jenen altepischen Wiederholungen <lb n="pwa_420.004"/> wenig weiss und eigentlich auch nichts wissen kann. Ein Theil der <lb n="pwa_420.005"/> volksmässigen Poesie auch bei uns bedient sich ihrer noch bis auf den <lb n="pwa_420.006"/> heutigen Tag, nämlich die Märchen und die Kinderlieder. Hier bleibt <lb n="pwa_420.007"/> die sonst veraltete Wirkung, weil hier die alte Ursache immer noch <lb n="pwa_420.008"/> lebt und fortbesteht: denn hier wird mündlich erzählt und gesungen, <lb n="pwa_420.009"/> nicht geschrieben und gelesen, und da es hier gilt, die noch ungeübte, <lb n="pwa_420.010"/> kindliche Phantasie zu beschäftigen, ist das altepische Erleichterungsmittel <lb n="pwa_420.011"/> besonders gut an der Stelle. So im Märchen von den zwei <lb n="pwa_420.012"/> Brüdern (Grimm, K. u. HM. 1, S. 311). Ganz häufig aber ist, besonders <lb n="pwa_420.013"/> in den Kinderliedern, das Erleichterungsmittel in echt pädagogischer <lb n="pwa_420.014"/> Art zugleich ein übendes Reizmittel, indem mit der Wiederholung <lb n="pwa_420.015"/> ein Anwachs des Wiederholten verbunden ist, mit jeder neuen <lb n="pwa_420.016"/> Wiederholung auch immer mehr Gedanken oder Begriffe wiederholt <lb n="pwa_420.017"/> werden. So in dem bekannten und vielfach variierten Liede vom <lb n="pwa_420.018"/> Jockeli, der Birnen schütteln wollte: Simrock, Kinderbuch (1848) <lb n="pwa_420.019"/> S. 218 und Stöber, Elsässisches Volksbüchlein 1, S. 31 u. 129. Ein <lb n="pwa_420.020"/> anderes Beispiel der Art ist die Geschichte vom Hähnchen und seinem <lb n="pwa_420.021"/> Hühnchen, wo wir die Poesie auf all ihren Stufen, in all ihren Tönen <lb n="pwa_420.022"/> und Farben finden: Simrock, Kinderbuch S. 198.</p> <p><lb n="pwa_420.023"/> Abgesehen nun von jenen Wiederholungen, die man die <hi rendition="#i">epischen <lb n="pwa_420.024"/> Wiederholungen</hi> nennen kann, da sie in den besonderen Bedürfnissen <lb n="pwa_420.025"/> des Epos begründet sind und zu den characteristischen Eigenthümlichkeiten <lb n="pwa_420.026"/> des epischen Stils gehören, abgesehen von den epischen Wiederholungen <lb n="pwa_420.027"/> giebt es nun noch andere Formen der äusseren Darstellung, <lb n="pwa_420.028"/> bei denen auch der Strom der poetischen Rede von Zeit zu Zeit <lb n="pwa_420.029"/> durch Wiederholung gehemmt und innegehalten wird, die jedoch ihrer <lb n="pwa_420.030"/> ganzen Beschaffenheit nach nicht gerade auf das Epos eingeschränkt, <lb n="pwa_420.031"/> ja sogar theilweise von dem eigentlichen Epos ausgeschlossen sind.</p> <p><lb n="pwa_420.032"/> Hier ist zuerst von der <hi rendition="#b">Anacoluthie</hi> (<foreign xml:lang="grc">ἀνακολουθία</foreign>), d. h. Folgewidrigkeit, <lb n="pwa_420.033"/> Aufhebung der Construction zu sprechen. Ein Ausdruck der <lb n="pwa_420.034"/> wiederholenden Anschauung ist in vielen Fällen die Anacoluthie, insofern <lb n="pwa_420.035"/> sie nämlich ganz gewöhnlich darin besteht, dass man eine Periode, <lb n="pwa_420.036"/> nachdem sie begonnen hat, ganz ohne streng grammatische Rücksicht <lb n="pwa_420.037"/> auf diesen ihren Beginn weiter bildet, am Ende aber den unterbrochenen <lb n="pwa_420.038"/> Faden wieder aufnimmt und sie nun mit solcher Wiederholung <lb n="pwa_420.039"/> doch noch demgemäss abschliesst, wie sie angefangen hat. <lb n="pwa_420.040"/> Solche Anacoluthien, die zuletzt der Regel doch wieder ihr Genüge <lb n="pwa_420.041"/> leisten, sind namentlich die Anacoluthien der Homerischen Gleichnisse: </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [420/0438]
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mehr so schwer, und hat auch der Leser einmal etwas vergessen, so pwa_420.002
kann er ja allenfalls rückwärts nachschlagen. Indessen, es ist nur pwa_420.003
die moderne Kunstpoesie, die von jenen altepischen Wiederholungen pwa_420.004
wenig weiss und eigentlich auch nichts wissen kann. Ein Theil der pwa_420.005
volksmässigen Poesie auch bei uns bedient sich ihrer noch bis auf den pwa_420.006
heutigen Tag, nämlich die Märchen und die Kinderlieder. Hier bleibt pwa_420.007
die sonst veraltete Wirkung, weil hier die alte Ursache immer noch pwa_420.008
lebt und fortbesteht: denn hier wird mündlich erzählt und gesungen, pwa_420.009
nicht geschrieben und gelesen, und da es hier gilt, die noch ungeübte, pwa_420.010
kindliche Phantasie zu beschäftigen, ist das altepische Erleichterungsmittel pwa_420.011
besonders gut an der Stelle. So im Märchen von den zwei pwa_420.012
Brüdern (Grimm, K. u. HM. 1, S. 311). Ganz häufig aber ist, besonders pwa_420.013
in den Kinderliedern, das Erleichterungsmittel in echt pädagogischer pwa_420.014
Art zugleich ein übendes Reizmittel, indem mit der Wiederholung pwa_420.015
ein Anwachs des Wiederholten verbunden ist, mit jeder neuen pwa_420.016
Wiederholung auch immer mehr Gedanken oder Begriffe wiederholt pwa_420.017
werden. So in dem bekannten und vielfach variierten Liede vom pwa_420.018
Jockeli, der Birnen schütteln wollte: Simrock, Kinderbuch (1848) pwa_420.019
S. 218 und Stöber, Elsässisches Volksbüchlein 1, S. 31 u. 129. Ein pwa_420.020
anderes Beispiel der Art ist die Geschichte vom Hähnchen und seinem pwa_420.021
Hühnchen, wo wir die Poesie auf all ihren Stufen, in all ihren Tönen pwa_420.022
und Farben finden: Simrock, Kinderbuch S. 198.
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Abgesehen nun von jenen Wiederholungen, die man die epischen pwa_420.024
Wiederholungen nennen kann, da sie in den besonderen Bedürfnissen pwa_420.025
des Epos begründet sind und zu den characteristischen Eigenthümlichkeiten pwa_420.026
des epischen Stils gehören, abgesehen von den epischen Wiederholungen pwa_420.027
giebt es nun noch andere Formen der äusseren Darstellung, pwa_420.028
bei denen auch der Strom der poetischen Rede von Zeit zu Zeit pwa_420.029
durch Wiederholung gehemmt und innegehalten wird, die jedoch ihrer pwa_420.030
ganzen Beschaffenheit nach nicht gerade auf das Epos eingeschränkt, pwa_420.031
ja sogar theilweise von dem eigentlichen Epos ausgeschlossen sind.
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Hier ist zuerst von der Anacoluthie (ἀνακολουθία), d. h. Folgewidrigkeit, pwa_420.033
Aufhebung der Construction zu sprechen. Ein Ausdruck der pwa_420.034
wiederholenden Anschauung ist in vielen Fällen die Anacoluthie, insofern pwa_420.035
sie nämlich ganz gewöhnlich darin besteht, dass man eine Periode, pwa_420.036
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auf diesen ihren Beginn weiter bildet, am Ende aber den unterbrochenen pwa_420.038
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doch noch demgemäss abschliesst, wie sie angefangen hat. pwa_420.040
Solche Anacoluthien, die zuletzt der Regel doch wieder ihr Genüge pwa_420.041
leisten, sind namentlich die Anacoluthien der Homerischen Gleichnisse:
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