Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_421.001 pwa_421.037 pwa_421.001 pwa_421.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0439" n="421"/><lb n="pwa_421.001"/> sie pflegen mit einem <hi rendition="#i">wie wenn</hi> (<foreign xml:lang="grc">ὡς ὅτε</foreign>) zu beginnen; alsbald aber <lb n="pwa_421.002"/> verschwindet diese Form der Abhängigkeit und die weiteren Züge des <lb n="pwa_421.003"/> Bildes erscheinen als selbständige Hauptsätze: ist aber das Bild in der <lb n="pwa_421.004"/> Weise abgethan, so kommt dann doch mit einem rückdeutenden <hi rendition="#i">so</hi> <lb n="pwa_421.005"/> (<foreign xml:lang="grc">ὧς</foreign>) das Gegenbild, mit einem <hi rendition="#i">so,</hi> dem nur zu Anfange des Ganzen <lb n="pwa_421.006"/> ein entsprechendes <hi rendition="#i">wie</hi> gegenübersteht. Wie das Homerische Gleichniss <lb n="pwa_421.007"/> überhaupt, so haben sich mit ihm unsere Dichter auch diese anacoluthische <lb n="pwa_421.008"/> Form desselben angeeignet; und diese Anacoluthien sind auch <lb n="pwa_421.009"/> beinahe die einzigen von Belang, die unsere neueren Dichter sich <lb n="pwa_421.010"/> gestatten, und mit Bewusstsein gestatten. Sie fühlen sich hier gegen <lb n="pwa_421.011"/> die Grammatik durch Homers Autorität gedeckt. So Göthe, Hermann <lb n="pwa_421.012"/> und Dorothea 7, 1 fgg.: „Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken <lb n="pwa_421.013"/> der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnell verschwindende, <lb n="pwa_421.014"/> fasste, Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens Schweben <lb n="pwa_421.015"/> siehet ihr Bild; wohin er die Blicke nur wendet, Eilet es vor und <lb n="pwa_421.016"/> glänzt und schwankt in herrlichen Farben: So bewegte vor Hermann <lb n="pwa_421.017"/> die liebliche Bildung des Mädchens Sanft sich vorbei und schien dem Pfad <lb n="pwa_421.018"/> ins Getreide zu folgen.“ Noch freier und kühner Schiller, Die Macht <lb n="pwa_421.019"/> des Gesanges (LB. 2, 1132): „Wie wenn auf einmal in die Kreise Der <lb n="pwa_421.020"/> Freude mit Gigantenschritt Geheimnissvoll nach Geisterweise Ein ungeheures <lb n="pwa_421.021"/> Schicksal tritt; Da beugt sich jede Erdengrösse Dem Fremdling <lb n="pwa_421.022"/> aus der andern Welt, Des Jubels nichtiges Getöse Verstummt <lb n="pwa_421.023"/> und jede Larve fällt, Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege Verschwindet <lb n="pwa_421.024"/> jedes Werk der Lüge: So rafft von jeder eiteln Bürde, <lb n="pwa_421.025"/> Wenn des Gesanges Ruf erschallt, Der Mensch sich auf zur Geisterwürde <lb n="pwa_421.026"/> Und tritt in heilige Gewalt.“ In solchen Anacoluthien zeigt <lb n="pwa_421.027"/> sich eigentlich beides zu gleicher Zeit wirksam, einmal die Bewegung <lb n="pwa_421.028"/> des Ruhenden, sodann die Beruhigung des Bewegten: die Bewegung <lb n="pwa_421.029"/> des Ruhenden, indem zuerst die einzelnen Züge des Bildes, die in der <lb n="pwa_421.030"/> streng grammatischen Form sämmtlich als beigeordnete Nebensätze auf <lb n="pwa_421.031"/> dem gleichen Puncte verweilen würden, durch die selbständige Form, <lb n="pwa_421.032"/> die man ihnen giebt, in eine fortschreitende Entwicklung gebracht <lb n="pwa_421.033"/> werden; die Beruhigung des Bewegten, indem diesem Fortschritt zuletzt <lb n="pwa_421.034"/> doch wieder Einhalt gethan und die Bewegung dadurch gehemmt und <lb n="pwa_421.035"/> zurückgedrängt wird, dass die Periode mit dem letzten Schritte wieder <lb n="pwa_421.036"/> in ihren Ausgangspunct zurücktritt.</p> <p><lb n="pwa_421.037"/> Aber auch ausserhalb des epischen oder Homerischen Gleichnisses <lb n="pwa_421.038"/> kommen erlaubte Anacoluthien vor: bei der Parenthese, auf Anlass eines <lb n="pwa_421.039"/> parenthetisch eingeschalteten Satzes (S. 348). Auch hier ist dann zugleich <lb n="pwa_421.040"/> beides vorhanden, vermehrte Bewegung und einlenkende Hemmung <lb n="pwa_421.041"/> derselben. Denn die Parenthese macht einen Schritt vorwärts aus dem </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [421/0439]
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sie pflegen mit einem wie wenn (ὡς ὅτε) zu beginnen; alsbald aber pwa_421.002
verschwindet diese Form der Abhängigkeit und die weiteren Züge des pwa_421.003
Bildes erscheinen als selbständige Hauptsätze: ist aber das Bild in der pwa_421.004
Weise abgethan, so kommt dann doch mit einem rückdeutenden so pwa_421.005
(ὧς) das Gegenbild, mit einem so, dem nur zu Anfange des Ganzen pwa_421.006
ein entsprechendes wie gegenübersteht. Wie das Homerische Gleichniss pwa_421.007
überhaupt, so haben sich mit ihm unsere Dichter auch diese anacoluthische pwa_421.008
Form desselben angeeignet; und diese Anacoluthien sind auch pwa_421.009
beinahe die einzigen von Belang, die unsere neueren Dichter sich pwa_421.010
gestatten, und mit Bewusstsein gestatten. Sie fühlen sich hier gegen pwa_421.011
die Grammatik durch Homers Autorität gedeckt. So Göthe, Hermann pwa_421.012
und Dorothea 7, 1 fgg.: „Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken pwa_421.013
der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnell verschwindende, pwa_421.014
fasste, Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens Schweben pwa_421.015
siehet ihr Bild; wohin er die Blicke nur wendet, Eilet es vor und pwa_421.016
glänzt und schwankt in herrlichen Farben: So bewegte vor Hermann pwa_421.017
die liebliche Bildung des Mädchens Sanft sich vorbei und schien dem Pfad pwa_421.018
ins Getreide zu folgen.“ Noch freier und kühner Schiller, Die Macht pwa_421.019
des Gesanges (LB. 2, 1132): „Wie wenn auf einmal in die Kreise Der pwa_421.020
Freude mit Gigantenschritt Geheimnissvoll nach Geisterweise Ein ungeheures pwa_421.021
Schicksal tritt; Da beugt sich jede Erdengrösse Dem Fremdling pwa_421.022
aus der andern Welt, Des Jubels nichtiges Getöse Verstummt pwa_421.023
und jede Larve fällt, Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege Verschwindet pwa_421.024
jedes Werk der Lüge: So rafft von jeder eiteln Bürde, pwa_421.025
Wenn des Gesanges Ruf erschallt, Der Mensch sich auf zur Geisterwürde pwa_421.026
Und tritt in heilige Gewalt.“ In solchen Anacoluthien zeigt pwa_421.027
sich eigentlich beides zu gleicher Zeit wirksam, einmal die Bewegung pwa_421.028
des Ruhenden, sodann die Beruhigung des Bewegten: die Bewegung pwa_421.029
des Ruhenden, indem zuerst die einzelnen Züge des Bildes, die in der pwa_421.030
streng grammatischen Form sämmtlich als beigeordnete Nebensätze auf pwa_421.031
dem gleichen Puncte verweilen würden, durch die selbständige Form, pwa_421.032
die man ihnen giebt, in eine fortschreitende Entwicklung gebracht pwa_421.033
werden; die Beruhigung des Bewegten, indem diesem Fortschritt zuletzt pwa_421.034
doch wieder Einhalt gethan und die Bewegung dadurch gehemmt und pwa_421.035
zurückgedrängt wird, dass die Periode mit dem letzten Schritte wieder pwa_421.036
in ihren Ausgangspunct zurücktritt.
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Aber auch ausserhalb des epischen oder Homerischen Gleichnisses pwa_421.038
kommen erlaubte Anacoluthien vor: bei der Parenthese, auf Anlass eines pwa_421.039
parenthetisch eingeschalteten Satzes (S. 348). Auch hier ist dann zugleich pwa_421.040
beides vorhanden, vermehrte Bewegung und einlenkende Hemmung pwa_421.041
derselben. Denn die Parenthese macht einen Schritt vorwärts aus dem
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