Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_422.001 pwa_422.008 pwa_422.022 pwa_422.001 pwa_422.008 pwa_422.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0440" n="422"/><lb n="pwa_422.001"/> Satze hinaus, da sie selbständig, nicht ein Zwischensatz, sondern ein <lb n="pwa_422.002"/> Hauptsatz ist; aber nach der Parenthese wird der abgebrochene Faden <lb n="pwa_422.003"/> anacoluthisch mit Wiederholung früherer Worte von Neuem aufgenommen. <lb n="pwa_422.004"/> So der erzählende Anfang einer Ode Klopstocks, Die beiden Musen <lb n="pwa_422.005"/> (LB. 2, 767): „Ich sah — o sagt mir, sah ich, was jetzt geschieht? <lb n="pwa_422.006"/> Erblickt' ich Zukunft? — mit der Britannischen Sah ich in Streitlauf <lb n="pwa_422.007"/> Deutschlands Muse Heiss zu den krönenden Zielen fliegen.“</p> <p><lb n="pwa_422.008"/> Eine andere Art der Wiederholung besteht in <hi rendition="#b">Theilung und Zusammenzählung.</hi> <lb n="pwa_422.009"/> Sie ist vorhanden, wenn eine Reihe gleichartiger, einander <lb n="pwa_422.010"/> beigeordneter Vorstellungen in möglichst übereinstimmender Ausdrucksweise <lb n="pwa_422.011"/> Stück für Stück vorgeführt und ausgeführt und dann zuletzt <lb n="pwa_422.012"/> all diese Einzelheiten noch einmal, aber nur kurz genannt und aufgezählt <lb n="pwa_422.013"/> werden, um sie unter einen gemeinsamen Gesichtspunct, um <lb n="pwa_422.014"/> einen Hauptbegriff, der den Mittelpunct bildet, zu vereinigen. Diese <lb n="pwa_422.015"/> Form der Wiederholung ist eine bezeichnende Eigenthümlichkeit der <lb n="pwa_422.016"/> älteren spanischen Poesie, und von daher ist sie auch in die deutsche <lb n="pwa_422.017"/> Poesie des siebzehnten Jahrhunderts aufgenommen worden. Z. B. ein <lb n="pwa_422.018"/> Sonett von Martin Opitz (LB. 2, 318) und Rückerts Abschied, ein <lb n="pwa_422.019"/> Gedicht, das nicht nur eins der schönsten und trefflichsten dieses <lb n="pwa_422.020"/> Dichters, sondern überhaupt der neueren deutschen Poesie ist <lb n="pwa_422.021"/> (LB. 2, 1539).</p> <p><lb n="pwa_422.022"/> Ein weiteres Mittel, den Strom der poetischen Rede durch Wiederholung <lb n="pwa_422.023"/> zu hemmen, ist der <hi rendition="#b">Refrain</hi> oder mit einem puristischen <lb n="pwa_422.024"/> Ausdruck der <hi rendition="#b">Kehrreim.</hi> Die letztere Benennung ist unpasslich, weil <lb n="pwa_422.025"/> es auch in der antiken Poesie Refrains giebt, die doch des Reimes <lb n="pwa_422.026"/> entbehren. So bei Theocrit, Id. 1 u. 2; bei Catull 61. 62. 64, und mit <lb n="pwa_422.027"/> Nachahmung Theocrits auch bei Virgil Eclog. 8 u. a. Man nennt es <lb n="pwa_422.028"/> einen Refrain, wenn in einem Gedichte, das strophisch gebaut oder <lb n="pwa_422.029"/> doch strophenartig gegliedert ist, hinter, vielleicht auch vor jeder einzelnen <lb n="pwa_422.030"/> Strophe oder jedem Absatze der gleiche Vers oder die gleiche <lb n="pwa_422.031"/> Verbindung mehrerer Verse immer von Neuem wiederholt wird. Auf <lb n="pwa_422.032"/> die Wiederholung zielt denn auch wahrscheinlich der Name: Refrain <lb n="pwa_422.033"/> ist eigentlich s. v. a. Sprichwort: man bekommt hier wie in einem <lb n="pwa_422.034"/> Sprichwort, das allgemein gäng und gäbe ist, immer wieder das <lb n="pwa_422.035"/> Gleiche zu hören. Bei den Lateinern heisst der Refrain <hi rendition="#i">versus intercalaris</hi> <lb n="pwa_422.036"/> (von <hi rendition="#i">calare</hi> rufen, woher auch dies intercalaris, Schalttag), <lb n="pwa_422.037"/> weil er in den Verlauf des Gedichtes eingeschaltet wird; bei den Griechen <lb n="pwa_422.038"/> <foreign xml:lang="grc">ἡ ἐπῳδός</foreign>, was nicht nur den Bezug auf die einzelne vorangegangene <lb n="pwa_422.039"/> Strophe ausdrückt, sondern auch den Sinn der sprichwörtlichen <lb n="pwa_422.040"/> Rede hat. Dem eigentlichen reinen Epos ist der Refrain durchaus <lb n="pwa_422.041"/> fremd: er bezeichnet vielmehr meistens die Mischung und zwar eine </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [422/0440]
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Satze hinaus, da sie selbständig, nicht ein Zwischensatz, sondern ein pwa_422.002
Hauptsatz ist; aber nach der Parenthese wird der abgebrochene Faden pwa_422.003
anacoluthisch mit Wiederholung früherer Worte von Neuem aufgenommen. pwa_422.004
So der erzählende Anfang einer Ode Klopstocks, Die beiden Musen pwa_422.005
(LB. 2, 767): „Ich sah — o sagt mir, sah ich, was jetzt geschieht? pwa_422.006
Erblickt' ich Zukunft? — mit der Britannischen Sah ich in Streitlauf pwa_422.007
Deutschlands Muse Heiss zu den krönenden Zielen fliegen.“
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Eine andere Art der Wiederholung besteht in Theilung und Zusammenzählung. pwa_422.009
Sie ist vorhanden, wenn eine Reihe gleichartiger, einander pwa_422.010
beigeordneter Vorstellungen in möglichst übereinstimmender Ausdrucksweise pwa_422.011
Stück für Stück vorgeführt und ausgeführt und dann zuletzt pwa_422.012
all diese Einzelheiten noch einmal, aber nur kurz genannt und aufgezählt pwa_422.013
werden, um sie unter einen gemeinsamen Gesichtspunct, um pwa_422.014
einen Hauptbegriff, der den Mittelpunct bildet, zu vereinigen. Diese pwa_422.015
Form der Wiederholung ist eine bezeichnende Eigenthümlichkeit der pwa_422.016
älteren spanischen Poesie, und von daher ist sie auch in die deutsche pwa_422.017
Poesie des siebzehnten Jahrhunderts aufgenommen worden. Z. B. ein pwa_422.018
Sonett von Martin Opitz (LB. 2, 318) und Rückerts Abschied, ein pwa_422.019
Gedicht, das nicht nur eins der schönsten und trefflichsten dieses pwa_422.020
Dichters, sondern überhaupt der neueren deutschen Poesie ist pwa_422.021
(LB. 2, 1539).
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Ein weiteres Mittel, den Strom der poetischen Rede durch Wiederholung pwa_422.023
zu hemmen, ist der Refrain oder mit einem puristischen pwa_422.024
Ausdruck der Kehrreim. Die letztere Benennung ist unpasslich, weil pwa_422.025
es auch in der antiken Poesie Refrains giebt, die doch des Reimes pwa_422.026
entbehren. So bei Theocrit, Id. 1 u. 2; bei Catull 61. 62. 64, und mit pwa_422.027
Nachahmung Theocrits auch bei Virgil Eclog. 8 u. a. Man nennt es pwa_422.028
einen Refrain, wenn in einem Gedichte, das strophisch gebaut oder pwa_422.029
doch strophenartig gegliedert ist, hinter, vielleicht auch vor jeder einzelnen pwa_422.030
Strophe oder jedem Absatze der gleiche Vers oder die gleiche pwa_422.031
Verbindung mehrerer Verse immer von Neuem wiederholt wird. Auf pwa_422.032
die Wiederholung zielt denn auch wahrscheinlich der Name: Refrain pwa_422.033
ist eigentlich s. v. a. Sprichwort: man bekommt hier wie in einem pwa_422.034
Sprichwort, das allgemein gäng und gäbe ist, immer wieder das pwa_422.035
Gleiche zu hören. Bei den Lateinern heisst der Refrain versus intercalaris pwa_422.036
(von calare rufen, woher auch dies intercalaris, Schalttag), pwa_422.037
weil er in den Verlauf des Gedichtes eingeschaltet wird; bei den Griechen pwa_422.038
ἡ ἐπῳδός, was nicht nur den Bezug auf die einzelne vorangegangene pwa_422.039
Strophe ausdrückt, sondern auch den Sinn der sprichwörtlichen pwa_422.040
Rede hat. Dem eigentlichen reinen Epos ist der Refrain durchaus pwa_422.041
fremd: er bezeichnet vielmehr meistens die Mischung und zwar eine
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