Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_427.001 pwa_427.032 pwa_427.001 pwa_427.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0445" n="427"/> <p><lb n="pwa_427.001"/><hi rendition="#b">Epizeuxis,</hi><foreign xml:lang="grc">ἐπίζευξις</foreign>, Hinzufügung, heisst im Allgemeinen überhaupt <lb n="pwa_427.002"/> jede Wiederholung ohne besondre Localisierung wie bei der Anaphora <lb n="pwa_427.003"/> und der Epiphora; z. B. die weite weite Welt; er sprach und sprach <lb n="pwa_427.004"/> und fand kein Ende. Da die Epizeuxis nicht grade immer am Schluss <lb n="pwa_427.005"/> oder immer am Anfang steht, ist sie natürlich eben auch von allen Wiederholungen <lb n="pwa_427.006"/> die häufigste; Beispiele dafür finden sich denn auch bei <lb n="pwa_427.007"/> jedem Dichter, aller Orten und Enden, sogar in der Alltagssprache. <lb n="pwa_427.008"/> Jesaia 24, 16: „Und ich muss sagen: Wie bin ich aber so mager? Wie <lb n="pwa_427.009"/> bin ich aber so mager? Weh mir; denn die Verächter verachten, ja <lb n="pwa_427.010"/> die Verächter verachten“; 62, 10: „Gehet hin, gehet hin durch die Thore, <lb n="pwa_427.011"/> bereitet dem Volk den Weg; machet Bahn, machet Bahn“. Gern verbindet <lb n="pwa_427.012"/> sich die Epizeuxis mit der Antithese, man bringt die wiederkehrenden <lb n="pwa_427.013"/> Worte gern in antithetisch wechselnde Beziehung, z. B. das <lb n="pwa_427.014"/> erste Mal auf ein <hi rendition="#i">ich,</hi> das zweite Mal auf ein <hi rendition="#i">du.</hi> So in dem altschwäbischen <lb n="pwa_427.015"/> Rechtsformular für ein Verlöbniss LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 187. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 365: „Mir <lb n="pwa_427.016"/> zemineme rethe, îv zuo ivwereme rethe, mit mineme uolewerde engegen <lb n="pwa_427.017"/> ivvereme uollen werde.“ Die alte Rechtssprache liebt die Epizeuxis, wie <lb n="pwa_427.018"/> sie die Cumulation und die Tautologie liebt; auch die Wiederholung <lb n="pwa_427.019"/> dient, indem sie den Moment fixiert und die Eile hemmt, zur Erhöhung <lb n="pwa_427.020"/> der Feierlichkeit, deren die rechtliche Handlung bedarf. Als eine <lb n="pwa_427.021"/> besondere Abart der Epizeuxis kann man solche reduplicierende Redensarten <lb n="pwa_427.022"/> betrachten wie Hand in Hand, Mund an Mund, Mann für Mann, <lb n="pwa_427.023"/> Auge um Auge, Zahn um Zahn u. dgl. Sagte man in prosaischer <lb n="pwa_427.024"/> Weise eine Hand in der andern, so würde dieser zählende Fortschritt <lb n="pwa_427.025"/> vom Ersten zum Zweiten die Vorstellung eben zu einer fortschreitenden <lb n="pwa_427.026"/> machen; die Wiederholung des gleichen Wortes hält diesen Fortschritt <lb n="pwa_427.027"/> inne und erhöht dadurch die sinnliche Anschaulichkeit. Diese <lb n="pwa_427.028"/> reduplicierenden Redensarten sind als die einfachste Art der Epizeuxis <lb n="pwa_427.029"/> und überhaupt der Wiederholungen auch der poetischen Sprache aller <lb n="pwa_427.030"/> Völker eigen: sie finden sich bei den Orientalen wie bei den Griechen <lb n="pwa_427.031"/> und Römern und Deutschen.</p> <p><lb n="pwa_427.032"/> Eine <hi rendition="#b">Symploke</hi> (<foreign xml:lang="grc">συμπλοκή</foreign>) endlich, d. h. eine Verflechtung, nennt <lb n="pwa_427.033"/> man es, wenn in einem Satze oder in einer eng zusammenhangenden <lb n="pwa_427.034"/> Reihe von Sätzen mehrere von den bisherigen Arten der Wiederholung <lb n="pwa_427.035"/> zugleich vorkommen, sich mit einander verbinden und verflechten. So <lb n="pwa_427.036"/> z. B. in Schillers Don Carlos 1. Act, 2. Auftr.: „Lass mich <hi rendition="#i">weinen,</hi> an <lb n="pwa_427.037"/> deinem Herzen heisse Thränen <hi rendition="#i">weinen</hi> (Epiphora), du einz'ger Freund. <lb n="pwa_427.038"/> Ich habe <hi rendition="#i">niemand, niemand</hi> (Epizeuxis), auf dieser grossen weiten Erde <lb n="pwa_427.039"/> <hi rendition="#i">niemand</hi> (Epiphora). <hi rendition="#i">Soweit</hi> das Scepter meines Vaters reicht, <hi rendition="#i">soweit</hi> <lb n="pwa_427.040"/> (Anaphora) die Schifffahrt unsre Flaggen sendet, Ist <hi rendition="#i">keine</hi> Stelle, <hi rendition="#i">keine, <lb n="pwa_427.041"/> keine</hi> (Epizeuxis), wo Ich meiner Thränen mich entlasten darf, als </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [427/0445]
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Epizeuxis, ἐπίζευξις, Hinzufügung, heisst im Allgemeinen überhaupt pwa_427.002
jede Wiederholung ohne besondre Localisierung wie bei der Anaphora pwa_427.003
und der Epiphora; z. B. die weite weite Welt; er sprach und sprach pwa_427.004
und fand kein Ende. Da die Epizeuxis nicht grade immer am Schluss pwa_427.005
oder immer am Anfang steht, ist sie natürlich eben auch von allen Wiederholungen pwa_427.006
die häufigste; Beispiele dafür finden sich denn auch bei pwa_427.007
jedem Dichter, aller Orten und Enden, sogar in der Alltagssprache. pwa_427.008
Jesaia 24, 16: „Und ich muss sagen: Wie bin ich aber so mager? Wie pwa_427.009
bin ich aber so mager? Weh mir; denn die Verächter verachten, ja pwa_427.010
die Verächter verachten“; 62, 10: „Gehet hin, gehet hin durch die Thore, pwa_427.011
bereitet dem Volk den Weg; machet Bahn, machet Bahn“. Gern verbindet pwa_427.012
sich die Epizeuxis mit der Antithese, man bringt die wiederkehrenden pwa_427.013
Worte gern in antithetisch wechselnde Beziehung, z. B. das pwa_427.014
erste Mal auf ein ich, das zweite Mal auf ein du. So in dem altschwäbischen pwa_427.015
Rechtsformular für ein Verlöbniss LB. 14, 187. 15, 365: „Mir pwa_427.016
zemineme rethe, îv zuo ivwereme rethe, mit mineme uolewerde engegen pwa_427.017
ivvereme uollen werde.“ Die alte Rechtssprache liebt die Epizeuxis, wie pwa_427.018
sie die Cumulation und die Tautologie liebt; auch die Wiederholung pwa_427.019
dient, indem sie den Moment fixiert und die Eile hemmt, zur Erhöhung pwa_427.020
der Feierlichkeit, deren die rechtliche Handlung bedarf. Als eine pwa_427.021
besondere Abart der Epizeuxis kann man solche reduplicierende Redensarten pwa_427.022
betrachten wie Hand in Hand, Mund an Mund, Mann für Mann, pwa_427.023
Auge um Auge, Zahn um Zahn u. dgl. Sagte man in prosaischer pwa_427.024
Weise eine Hand in der andern, so würde dieser zählende Fortschritt pwa_427.025
vom Ersten zum Zweiten die Vorstellung eben zu einer fortschreitenden pwa_427.026
machen; die Wiederholung des gleichen Wortes hält diesen Fortschritt pwa_427.027
inne und erhöht dadurch die sinnliche Anschaulichkeit. Diese pwa_427.028
reduplicierenden Redensarten sind als die einfachste Art der Epizeuxis pwa_427.029
und überhaupt der Wiederholungen auch der poetischen Sprache aller pwa_427.030
Völker eigen: sie finden sich bei den Orientalen wie bei den Griechen pwa_427.031
und Römern und Deutschen.
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Eine Symploke (συμπλοκή) endlich, d. h. eine Verflechtung, nennt pwa_427.033
man es, wenn in einem Satze oder in einer eng zusammenhangenden pwa_427.034
Reihe von Sätzen mehrere von den bisherigen Arten der Wiederholung pwa_427.035
zugleich vorkommen, sich mit einander verbinden und verflechten. So pwa_427.036
z. B. in Schillers Don Carlos 1. Act, 2. Auftr.: „Lass mich weinen, an pwa_427.037
deinem Herzen heisse Thränen weinen (Epiphora), du einz'ger Freund. pwa_427.038
Ich habe niemand, niemand (Epizeuxis), auf dieser grossen weiten Erde pwa_427.039
niemand (Epiphora). Soweit das Scepter meines Vaters reicht, soweit pwa_427.040
(Anaphora) die Schifffahrt unsre Flaggen sendet, Ist keine Stelle, keine, pwa_427.041
keine (Epizeuxis), wo Ich meiner Thränen mich entlasten darf, als
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