Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_029.001 pwa_029.027 pwa_029.034 1 pwa_029.039 Il. 5, 733 fgg. 2 pwa_029.040
Il. 18 am Ende. pwa_029.001 pwa_029.027 pwa_029.034 1 pwa_029.039 Il. 5, 733 fgg. 2 pwa_029.040
Il. 18 am Ende. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0047" n="29"/><lb n="pwa_029.001"/> sehen wir Helm und Harnisch zugleich, und so hat er vorher auch <lb n="pwa_029.002"/> in sich die Form auf einmal gefasst. Anders der Dichter. Er kann <lb n="pwa_029.003"/> die einzelnen Theile der Rüstung nicht als ruhig coexistierend vorführen: <lb n="pwa_029.004"/> denn seine Gedanken, seine Worte haben selber keine ruhige <lb n="pwa_029.005"/> Coexistenz. Versuchte er es auch, er würde doch nur eine Reihe, <lb n="pwa_029.006"/> ein dürres registerartiges Nebeneinander von Einzelheiten geben, eine <lb n="pwa_029.007"/> Mannigfaltigkeit ohne Totalität, ohne Einheit. Deshalb wird der Dichter <lb n="pwa_029.008"/> schon bei der Anschauung anders verfahren müssen als der bildende <lb n="pwa_029.009"/> Künstler, sie wird in ihm von progressiver Natur sein: ihm <lb n="pwa_029.010"/> gestaltet sich der Held nicht, wie er gewappnet ist, sondern wie er <lb n="pwa_029.011"/> gewappnet wird, oder er sieht die Waffen nicht fertig daliegen, sondern <lb n="pwa_029.012"/> erst bereiten. So Homer: er beschreibt die Pallas nicht, wie sie <lb n="pwa_029.013"/> den Helm am Haupte, die Aegide vor der Brust getragen u. s. w., <lb n="pwa_029.014"/> sondern er erzählt, er führt es historisch bewegt vor, wie sie die <lb n="pwa_029.015"/> Aegis ergriffen habe und den Helm aufgesetzt<note xml:id="pwa_029_1" place="foot" n="1"><lb n="pwa_029.039"/> Il. 5, 733 fgg.</note> Er entwirft kein <lb n="pwa_029.016"/> Gemälde vom Schild des Achilles, denn er ist eben kein Maler, sondern <lb n="pwa_029.017"/> ein Dichter: er erzählt vielmehr, Schritt für Schritt, in causaler <lb n="pwa_029.018"/> Succession, wie Hephaest den Schild geschmiedet, wie er nun dieses, <lb n="pwa_029.019"/> dann jenes Bildwerk daran hervorgebracht.<note xml:id="pwa_029_2" place="foot" n="2"><lb n="pwa_029.040"/> Il. 18 am Ende.</note> Und auf ähnliche Weise <lb n="pwa_029.020"/> wird in dgl. Fällen jeder gute Dichter verfahren, wenn er auch kein <lb n="pwa_029.021"/> Epiker ist: auch die Anschauungen des Lyrikers werden in sich immer <lb n="pwa_029.022"/> beweglich vorwärtsschreiten, nicht mit beschnittenen Flügeln <lb n="pwa_029.023"/> auf Einem Fleck liegen bleiben; er wird nicht in der ersten Strophe <lb n="pwa_029.024"/> fühlen: Ich liebe, und in der zweiten wieder: Ich liebe, und in der <lb n="pwa_029.025"/> dritten noch einmal: Ich liebe, sondern etwa: Ich liebe, Ich liebe <lb n="pwa_029.026"/> Dich, Ich liebe Dich sehr.</p> <p><lb n="pwa_029.027"/> So ist also die Art und Weise aller poetischen Anschauung und <lb n="pwa_029.028"/> Darstellung durch das gegebene Mittel der Darstellung bedingt; zugleich <lb n="pwa_029.029"/> ist sie aber auch bedingt durch den Zweck, der mit der Darstellung <lb n="pwa_029.030"/> beabsichtigt wird. Eh wir jedoch auch hierüber sprechen, <lb n="pwa_029.031"/> ist vorher noch in aller Kürze die Frage zu berühren, was denn der <lb n="pwa_029.032"/> Zweck der poetischen und überhaupt jeder künstlerischen Darstellung <lb n="pwa_029.033"/> sei.</p> <p><lb n="pwa_029.034"/> Es ist ein beliebtes Schlagwort, zu sagen, die Kunst habe gar <lb n="pwa_029.035"/> keinen Zweck. Ein überraschendes Wort, das einmal passlich mag <lb n="pwa_029.036"/> geschienen haben, eben ein witziges Wort, weiter nichts. Die Kunst <lb n="pwa_029.037"/> kann so wenig ganz zwecklos sein, als ihr himmlisches Vorbild, die <lb n="pwa_029.038"/> göttliche Allmacht, bei ihren Schöpfungen jemals zwecklos verfährt. </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [29/0047]
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sehen wir Helm und Harnisch zugleich, und so hat er vorher auch pwa_029.002
in sich die Form auf einmal gefasst. Anders der Dichter. Er kann pwa_029.003
die einzelnen Theile der Rüstung nicht als ruhig coexistierend vorführen: pwa_029.004
denn seine Gedanken, seine Worte haben selber keine ruhige pwa_029.005
Coexistenz. Versuchte er es auch, er würde doch nur eine Reihe, pwa_029.006
ein dürres registerartiges Nebeneinander von Einzelheiten geben, eine pwa_029.007
Mannigfaltigkeit ohne Totalität, ohne Einheit. Deshalb wird der Dichter pwa_029.008
schon bei der Anschauung anders verfahren müssen als der bildende pwa_029.009
Künstler, sie wird in ihm von progressiver Natur sein: ihm pwa_029.010
gestaltet sich der Held nicht, wie er gewappnet ist, sondern wie er pwa_029.011
gewappnet wird, oder er sieht die Waffen nicht fertig daliegen, sondern pwa_029.012
erst bereiten. So Homer: er beschreibt die Pallas nicht, wie sie pwa_029.013
den Helm am Haupte, die Aegide vor der Brust getragen u. s. w., pwa_029.014
sondern er erzählt, er führt es historisch bewegt vor, wie sie die pwa_029.015
Aegis ergriffen habe und den Helm aufgesetzt 1 Er entwirft kein pwa_029.016
Gemälde vom Schild des Achilles, denn er ist eben kein Maler, sondern pwa_029.017
ein Dichter: er erzählt vielmehr, Schritt für Schritt, in causaler pwa_029.018
Succession, wie Hephaest den Schild geschmiedet, wie er nun dieses, pwa_029.019
dann jenes Bildwerk daran hervorgebracht. 2 Und auf ähnliche Weise pwa_029.020
wird in dgl. Fällen jeder gute Dichter verfahren, wenn er auch kein pwa_029.021
Epiker ist: auch die Anschauungen des Lyrikers werden in sich immer pwa_029.022
beweglich vorwärtsschreiten, nicht mit beschnittenen Flügeln pwa_029.023
auf Einem Fleck liegen bleiben; er wird nicht in der ersten Strophe pwa_029.024
fühlen: Ich liebe, und in der zweiten wieder: Ich liebe, und in der pwa_029.025
dritten noch einmal: Ich liebe, sondern etwa: Ich liebe, Ich liebe pwa_029.026
Dich, Ich liebe Dich sehr.
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So ist also die Art und Weise aller poetischen Anschauung und pwa_029.028
Darstellung durch das gegebene Mittel der Darstellung bedingt; zugleich pwa_029.029
ist sie aber auch bedingt durch den Zweck, der mit der Darstellung pwa_029.030
beabsichtigt wird. Eh wir jedoch auch hierüber sprechen, pwa_029.031
ist vorher noch in aller Kürze die Frage zu berühren, was denn der pwa_029.032
Zweck der poetischen und überhaupt jeder künstlerischen Darstellung pwa_029.033
sei.
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Es ist ein beliebtes Schlagwort, zu sagen, die Kunst habe gar pwa_029.035
keinen Zweck. Ein überraschendes Wort, das einmal passlich mag pwa_029.036
geschienen haben, eben ein witziges Wort, weiter nichts. Die Kunst pwa_029.037
kann so wenig ganz zwecklos sein, als ihr himmlisches Vorbild, die pwa_029.038
göttliche Allmacht, bei ihren Schöpfungen jemals zwecklos verfährt.
1 pwa_029.039
Il. 5, 733 fgg.
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Il. 18 am Ende.
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