Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_036.001 pwa_036.026 pwa_036.001 pwa_036.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0054" n="36"/><lb n="pwa_036.001"/> und andrer griechischen Volksstämme (Aelian. Var. histor. 2, 39), auch <lb n="pwa_036.002"/> von denen der Keltiberer (Strabo 3 p. 139) wird gemeldet, sie seien <lb n="pwa_036.003"/> in Versen abgefasst gewesen. Dasselbe gilt auch von den Verordnungen <lb n="pwa_036.004"/> (<foreign xml:lang="grc">ῥῆτραι</foreign>) Lycurgs, welche später von Terpander in Musik gesetzt wurden <lb n="pwa_036.005"/> (Otfr. Müller, Dorier 1, 134. 2, 377); und jetzt noch liegen uns von <lb n="pwa_036.006"/> den Angelsachsen und andern deutschen Völkern dergleichen Gesetze <lb n="pwa_036.007"/> vor. Noch aus dem 12. Jahrhundert besitzen wir in hochdeutscher <lb n="pwa_036.008"/> Sprache eine kleine Rechtsschrift, die halb Prosa ist, halb Poesie <lb n="pwa_036.009"/> (mit Reim und Allitteration): LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 187. Natürlich war die ganze <lb n="pwa_036.010"/> Auffassung des Rechtes damals bei den Alten und bei den Deutschen <lb n="pwa_036.011"/> auch eine andre, die metrische Form war damals ebenso angemessen, <lb n="pwa_036.012"/> als sie es heut zu Tage wahrscheinlich nicht wäre. Wie poetisch <lb n="pwa_036.013"/> kann noch die Rede bei all den Rechtsverhandlungen sein, die in den <lb n="pwa_036.014"/> ersten Büchern des Livius vorkommen! Die Poesie geht also überall <lb n="pwa_036.015"/> der Prosa voran, und so leben noch jetzt ganze Völker, bei denen <lb n="pwa_036.016"/> es noch gar nicht bis zur Prosa gekommen, bei denen die Poesie <lb n="pwa_036.017"/> noch unverfallen und in frischer Blüte und darum ganz allein da steht: <lb n="pwa_036.018"/> so sind die Littauer, so die Serben reich an den schönsten Liedern, <lb n="pwa_036.019"/> aber ohne Prosa. Kurz überall ist diejenige Art der Anschauung <lb n="pwa_036.020"/> und Darstellung die ältre und die ursprüngliche, die vorzugsweise aus <lb n="pwa_036.021"/> schaffender Thätigkeit der Einbildung erwächst, die uns den Menschen <lb n="pwa_036.022"/> in seinem Streben zeigt, es dem Schöpfer aller Dinge nachzuthun, <lb n="pwa_036.023"/> diejenige Art, bei der er uns mehr activ entgegentritt: jünger <lb n="pwa_036.024"/> die mehr passivische Thätigkeit des Verstandes und deren sprachlicher <lb n="pwa_036.025"/> Ausdruck, die Prosa.</p> <p><lb n="pwa_036.026"/> Die Poesie ist aber nicht bloss älter als die Prosa, sie ist überhaupt <lb n="pwa_036.027"/> uralt und wahrscheinlich nicht viel jünger als die Sprache, mithin <lb n="pwa_036.028"/> als die Menschheit selbst. Zu einer solchen Annahme sind wir <lb n="pwa_036.029"/> durch vieles berechtigt. Der Kunsttrieb wohnt einmal dem Menschen <lb n="pwa_036.030"/> inne: welche Aeusserung desselben ist aber einfacher und näher gelegen <lb n="pwa_036.031"/> und unmittelbarer als die durch die Sprache, deren er ohnediess <lb n="pwa_036.032"/> fortwährend zur Mittheilung bedarf? Sodann ist jede Sprache, je älter <lb n="pwa_036.033"/> sie ist, auch desto sinnlich anschaulicher in all ihren Ausdrücken und <lb n="pwa_036.034"/> desto wohllautender; je mehr sie noch bei jugendlichen Kräften, je <lb n="pwa_036.035"/> weniger sie in Begriffen und Formen abgeschliffen, je weniger noch <lb n="pwa_036.036"/> die Fülle ihrer Laute getrübt und geschwächt ist, desto mehr ist jede <lb n="pwa_036.037"/> Sprache schon für sich eine schöne Darstellung: da ist es nur ein <lb n="pwa_036.038"/> kleiner Schritt vorwärts, zum Object dieser schönen Darstellung auch <lb n="pwa_036.039"/> das Schöne zu machen, aus der Sprache die Poesie zu entwickeln. <lb n="pwa_036.040"/> Endlich kommt noch eine Thatsache in Anschlag, dass nämlich in <lb n="pwa_036.041"/> ihrer Jugendzeit jede Sprache mehr Gesang als eigentlich Sprache </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [36/0054]
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und andrer griechischen Volksstämme (Aelian. Var. histor. 2, 39), auch pwa_036.002
von denen der Keltiberer (Strabo 3 p. 139) wird gemeldet, sie seien pwa_036.003
in Versen abgefasst gewesen. Dasselbe gilt auch von den Verordnungen pwa_036.004
(ῥῆτραι) Lycurgs, welche später von Terpander in Musik gesetzt wurden pwa_036.005
(Otfr. Müller, Dorier 1, 134. 2, 377); und jetzt noch liegen uns von pwa_036.006
den Angelsachsen und andern deutschen Völkern dergleichen Gesetze pwa_036.007
vor. Noch aus dem 12. Jahrhundert besitzen wir in hochdeutscher pwa_036.008
Sprache eine kleine Rechtsschrift, die halb Prosa ist, halb Poesie pwa_036.009
(mit Reim und Allitteration): LB. 14, 187. Natürlich war die ganze pwa_036.010
Auffassung des Rechtes damals bei den Alten und bei den Deutschen pwa_036.011
auch eine andre, die metrische Form war damals ebenso angemessen, pwa_036.012
als sie es heut zu Tage wahrscheinlich nicht wäre. Wie poetisch pwa_036.013
kann noch die Rede bei all den Rechtsverhandlungen sein, die in den pwa_036.014
ersten Büchern des Livius vorkommen! Die Poesie geht also überall pwa_036.015
der Prosa voran, und so leben noch jetzt ganze Völker, bei denen pwa_036.016
es noch gar nicht bis zur Prosa gekommen, bei denen die Poesie pwa_036.017
noch unverfallen und in frischer Blüte und darum ganz allein da steht: pwa_036.018
so sind die Littauer, so die Serben reich an den schönsten Liedern, pwa_036.019
aber ohne Prosa. Kurz überall ist diejenige Art der Anschauung pwa_036.020
und Darstellung die ältre und die ursprüngliche, die vorzugsweise aus pwa_036.021
schaffender Thätigkeit der Einbildung erwächst, die uns den Menschen pwa_036.022
in seinem Streben zeigt, es dem Schöpfer aller Dinge nachzuthun, pwa_036.023
diejenige Art, bei der er uns mehr activ entgegentritt: jünger pwa_036.024
die mehr passivische Thätigkeit des Verstandes und deren sprachlicher pwa_036.025
Ausdruck, die Prosa.
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Die Poesie ist aber nicht bloss älter als die Prosa, sie ist überhaupt pwa_036.027
uralt und wahrscheinlich nicht viel jünger als die Sprache, mithin pwa_036.028
als die Menschheit selbst. Zu einer solchen Annahme sind wir pwa_036.029
durch vieles berechtigt. Der Kunsttrieb wohnt einmal dem Menschen pwa_036.030
inne: welche Aeusserung desselben ist aber einfacher und näher gelegen pwa_036.031
und unmittelbarer als die durch die Sprache, deren er ohnediess pwa_036.032
fortwährend zur Mittheilung bedarf? Sodann ist jede Sprache, je älter pwa_036.033
sie ist, auch desto sinnlich anschaulicher in all ihren Ausdrücken und pwa_036.034
desto wohllautender; je mehr sie noch bei jugendlichen Kräften, je pwa_036.035
weniger sie in Begriffen und Formen abgeschliffen, je weniger noch pwa_036.036
die Fülle ihrer Laute getrübt und geschwächt ist, desto mehr ist jede pwa_036.037
Sprache schon für sich eine schöne Darstellung: da ist es nur ein pwa_036.038
kleiner Schritt vorwärts, zum Object dieser schönen Darstellung auch pwa_036.039
das Schöne zu machen, aus der Sprache die Poesie zu entwickeln. pwa_036.040
Endlich kommt noch eine Thatsache in Anschlag, dass nämlich in pwa_036.041
ihrer Jugendzeit jede Sprache mehr Gesang als eigentlich Sprache
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