Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_035.001 pwa_035.018 pwa_035.021 2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE. pwa_035.022 pwa_035.001 pwa_035.018 pwa_035.021 2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE. pwa_035.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0053" n="35"/><lb n="pwa_035.001"/> Poesie nie recht aufkommen konnte; sie treten auch in diesem Stück <lb n="pwa_035.002"/> wie in so vielen mitten hinein zwischen Griechen und Deutsche, zwischen <lb n="pwa_035.003"/> die alte und die neue Welt. Dieser moderne Schmuck ist von <lb n="pwa_035.004"/> wesentlichen Folgen für die ganze Art und Weise der poetischen Darstellung. <lb n="pwa_035.005"/> Bei den Alten steht jeder Vers für sich, und es kann allenfalls <lb n="pwa_035.006"/> ein Gedicht, z. B. ein Epigramm mit einer Zeile abgethan werden: <lb n="pwa_035.007"/> bei den Neuern verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten, <lb n="pwa_035.008"/> der die Allitteration, den Reim, die Assonanz vollende; das <lb n="pwa_035.009"/> kürzeste Gedicht ist wenigstens zweizeilig. Auf Anlass dieses zweigliedrigen <lb n="pwa_035.010"/> Gleichklanges ist der Parallelismus der Gedanken in der <lb n="pwa_035.011"/> neuern Poesie weit mehr zu Hause als in der antiken, namentlich <lb n="pwa_035.012"/> der griechischen, wenn er ihr auch nicht in solchem Masse eigen ist <lb n="pwa_035.013"/> als der hebräischen. Diese freilich hat, wie es scheint, gar keine <lb n="pwa_035.014"/> rhythmische Gliederung der poetischen Rede gekannt und keine viel <lb n="pwa_035.015"/> weitergehende Ausschmückung derselben als eben diesen auf Tautologien <lb n="pwa_035.016"/> und Antithesen beruhenden Parallelismus der Gedanken; den <lb n="pwa_035.017"/> Reim hat sie mehr nur als Wortspiel geübt.</p> <p><lb n="pwa_035.018"/> Und somit wäre denn die gegebene Definition der Poesie weitläuftig <lb n="pwa_035.019"/> genug ausgeführt. Wir können nun übergehen zu den zwei <lb n="pwa_035.020"/> andern Abschnitten dieses Theiles.</p> </div> <div n="4"> <lb n="pwa_035.021"/> <head> <hi rendition="#c">2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE.</hi> </head> <p><lb n="pwa_035.022"/> So viel steht fest, dass die Poesie überall älter ist als die Prosa. <lb n="pwa_035.023"/> Wohin wir blicken mögen, in welche Zeit, in welches Land wir auch <lb n="pwa_035.024"/> wollen, ein Volk, das seine Litteratur besitzt, hat den Anfang dazu <lb n="pwa_035.025"/> immer mit Poesie gemacht, und die Prosa hat sich immer erst dann <lb n="pwa_035.026"/> zu entwickeln begonnen, wenn die Poesie schon mehr oder minder, <lb n="pwa_035.027"/> theilweis oder gänzlich in Verfall gerathen war. Die Kunst der Homeriden <lb n="pwa_035.028"/> musste erloschen sein, eh Griechenland in Herodot einen <lb n="pwa_035.029"/> Vater der geschichtlichen Prosa finden konnte; ebenso in Deutschland: <lb n="pwa_035.030"/> die rechte Ausbildung der erzählenden Prosa beginnt eigentlich erst <lb n="pwa_035.031"/> mit dem Roman, der Roman aber erwächst und wuchert auf den <lb n="pwa_035.032"/> Trümmern des Epos. Ja wir finden im Alterthum, im deutschen wie <lb n="pwa_035.033"/> im griechischen und anderswo, die poetische Behandlung auf Dinge <lb n="pwa_035.034"/> angewendet, die uns jetzt derselben eben nicht gar fähig erscheinen: <lb n="pwa_035.035"/> so die historischen Gedichte des 12. 13. 14. Jahrhunderts. Beim Unterricht <lb n="pwa_035.036"/> der gallischen Druiden, der sich auch auf Gestirnkunde und <lb n="pwa_035.037"/> andre Theile der Naturwissenschaft erstreckte, wurde, wie es scheint, <lb n="pwa_035.038"/> alles in Versen vorgetragen, damit es die Schüler auswendig lernen <lb n="pwa_035.039"/> könnten, vgl. Cäsars Bell. gall. 6, 14. Von den Gesetzen der Kretenser </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [35/0053]
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Poesie nie recht aufkommen konnte; sie treten auch in diesem Stück pwa_035.002
wie in so vielen mitten hinein zwischen Griechen und Deutsche, zwischen pwa_035.003
die alte und die neue Welt. Dieser moderne Schmuck ist von pwa_035.004
wesentlichen Folgen für die ganze Art und Weise der poetischen Darstellung. pwa_035.005
Bei den Alten steht jeder Vers für sich, und es kann allenfalls pwa_035.006
ein Gedicht, z. B. ein Epigramm mit einer Zeile abgethan werden: pwa_035.007
bei den Neuern verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten, pwa_035.008
der die Allitteration, den Reim, die Assonanz vollende; das pwa_035.009
kürzeste Gedicht ist wenigstens zweizeilig. Auf Anlass dieses zweigliedrigen pwa_035.010
Gleichklanges ist der Parallelismus der Gedanken in der pwa_035.011
neuern Poesie weit mehr zu Hause als in der antiken, namentlich pwa_035.012
der griechischen, wenn er ihr auch nicht in solchem Masse eigen ist pwa_035.013
als der hebräischen. Diese freilich hat, wie es scheint, gar keine pwa_035.014
rhythmische Gliederung der poetischen Rede gekannt und keine viel pwa_035.015
weitergehende Ausschmückung derselben als eben diesen auf Tautologien pwa_035.016
und Antithesen beruhenden Parallelismus der Gedanken; den pwa_035.017
Reim hat sie mehr nur als Wortspiel geübt.
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Und somit wäre denn die gegebene Definition der Poesie weitläuftig pwa_035.019
genug ausgeführt. Wir können nun übergehen zu den zwei pwa_035.020
andern Abschnitten dieses Theiles.
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2. ALTER UND URSPRUNG DER POESIE. pwa_035.022
So viel steht fest, dass die Poesie überall älter ist als die Prosa. pwa_035.023
Wohin wir blicken mögen, in welche Zeit, in welches Land wir auch pwa_035.024
wollen, ein Volk, das seine Litteratur besitzt, hat den Anfang dazu pwa_035.025
immer mit Poesie gemacht, und die Prosa hat sich immer erst dann pwa_035.026
zu entwickeln begonnen, wenn die Poesie schon mehr oder minder, pwa_035.027
theilweis oder gänzlich in Verfall gerathen war. Die Kunst der Homeriden pwa_035.028
musste erloschen sein, eh Griechenland in Herodot einen pwa_035.029
Vater der geschichtlichen Prosa finden konnte; ebenso in Deutschland: pwa_035.030
die rechte Ausbildung der erzählenden Prosa beginnt eigentlich erst pwa_035.031
mit dem Roman, der Roman aber erwächst und wuchert auf den pwa_035.032
Trümmern des Epos. Ja wir finden im Alterthum, im deutschen wie pwa_035.033
im griechischen und anderswo, die poetische Behandlung auf Dinge pwa_035.034
angewendet, die uns jetzt derselben eben nicht gar fähig erscheinen: pwa_035.035
so die historischen Gedichte des 12. 13. 14. Jahrhunderts. Beim Unterricht pwa_035.036
der gallischen Druiden, der sich auch auf Gestirnkunde und pwa_035.037
andre Theile der Naturwissenschaft erstreckte, wurde, wie es scheint, pwa_035.038
alles in Versen vorgetragen, damit es die Schüler auswendig lernen pwa_035.039
könnten, vgl. Cäsars Bell. gall. 6, 14. Von den Gesetzen der Kretenser
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