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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Nun noch die deutschen Ausdrücke. Alt- und echtdeutsch wird pwa_041.002
für Dichten singen oder sagen, oder in tautologischer Verbindung pwa_041.003
singen und sagen gebraucht. Jenes zielt auf den musikalischen Vortrag, pwa_041.004
dieses auf die künstlerische Gestaltung der Sprache; singen und pwa_041.005
sagen
vereinigt althochdeutsch und altsächsisch beide Beziehungen. pwa_041.006
Diese Verbindung ist so fest sprichwörtlich, und so wenig hatte man pwa_041.007
Kenntniss von einer andern Art des Vortrages, dass die altsächsische pwa_041.008
Evangelienharmonie (Heliand) sogar von den Evangelisten erzählt, sie pwa_041.009
hätten gesagt und gesungen1, und Otfried von eben denselben unmittelbar pwa_041.010
neben einander zuerst sagen und dann singen gebraucht2. Späterhin, pwa_041.011
wo Poesie und Musik sich trennen, trennen sich auch diese pwa_041.012
Ausdrücke, und während sagen von Gedichten gilt, die nur zum pwa_041.013
Lesen bestimmt sind, wird singen von solchen gebraucht, die musikalische pwa_041.014
Begleitung haben. Demgemäss wird ein gesungenes Gedicht pwa_041.015
sanc oder liet (d. h. Strophe), ein bloss gelesenes buoch genannt. pwa_041.016
Der älteste nationale Ausdruck für Dichter ist nicht Barde: denn pwa_041.017
Barden hat es nach dem einstimmigen Zeugniss der Alten, der Griechen pwa_041.018
sowie der Römer, nur bei den Galliern gegeben. Und wenn pwa_041.019
Tacitus in der Germania cp. 3 den germanischen Schlachtgesang barditus3 pwa_041.020
nennt, so ist damit nicht sowohl das Lied selbst, als vielmehr pwa_041.021
die Art des Vortrages, der relatus gemeint: barditus ist ein Schildgesang, pwa_041.022
von bardi Schild, so genannt, weil die alten Deutschen den pwa_041.023
Schild vor den Mund hielten, damit der Ton rauher anschwelle. Der pwa_041.024
älteste Name des Dichters ist scof4, von der Wurzel schaffen, wie pwa_041.025
poietes von poieo. Im Altnordischen heisst er skald, von schelten, pwa_041.026
mit Bezug auf die satirische Richtung der Poesie. Die jetzt üblichen pwa_041.027
Worte dichten, Dichter, Gedicht, altdeutsch tihten (daher noch jetzt pwa_041.028
tichten und trachten), tihtaere, getihte kommen vom lateinischen dictare, pwa_041.029
dem Frequentativum und Intensivum von dicere; dictare aber bedeutet pwa_041.030
im mittelalterlichen Latein s. v. a. schreiben, schriftlich abfassen, und pwa_041.031
wird nur von geschriebenen Erzeugnissen gebraucht.

1 pwa_041.032
Hel. V. 32 f.: That scoldun sea fiorei thuo fingron screiban, settian endi pwa_041.033
singan endi seggean forth u. s. w.
2 pwa_041.034
Otfr. 1, 1; LB. 14, 84, 25. 29: Thaß Kristes uuort uns sagetun ... Uuanta pwa_041.035
sie iß gisungun.
3 pwa_041.036
Litt. Gesch. S. 9.
4 pwa_041.037
Litt. Gesch. S. 11. 41.

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Nun noch die deutschen Ausdrücke. Alt- und echtdeutsch wird pwa_041.002
für Dichten singen oder sagen, oder in tautologischer Verbindung pwa_041.003
singen und sagen gebraucht. Jenes zielt auf den musikalischen Vortrag, pwa_041.004
dieses auf die künstlerische Gestaltung der Sprache; singen und pwa_041.005
sagen
vereinigt althochdeutsch und altsächsisch beide Beziehungen. pwa_041.006
Diese Verbindung ist so fest sprichwörtlich, und so wenig hatte man pwa_041.007
Kenntniss von einer andern Art des Vortrages, dass die altsächsische pwa_041.008
Evangelienharmonie (Heliand) sogar von den Evangelisten erzählt, sie pwa_041.009
hätten gesagt und gesungen1, und Otfried von eben denselben unmittelbar pwa_041.010
neben einander zuerst sagen und dann singen gebraucht2. Späterhin, pwa_041.011
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Lesen bestimmt sind, wird singen von solchen gebraucht, die musikalische pwa_041.014
Begleitung haben. Demgemäss wird ein gesungenes Gedicht pwa_041.015
sanc oder liet (d. h. Strophe), ein bloss gelesenes buoch genannt. pwa_041.016
Der älteste nationale Ausdruck für Dichter ist nicht Barde: denn pwa_041.017
Barden hat es nach dem einstimmigen Zeugniss der Alten, der Griechen pwa_041.018
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die Art des Vortrages, der relatus gemeint: barditus ist ein Schildgesang, pwa_041.022
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älteste Name des Dichters ist scof4, von der Wurzel schaffen, wie pwa_041.025
ποιητής von ποιέω. Im Altnordischen heisst er skâld, von schelten, pwa_041.026
mit Bezug auf die satirische Richtung der Poesie. Die jetzt üblichen pwa_041.027
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tichten und trachten), tihtaere, getihte kommen vom lateinischen dictare, pwa_041.029
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im mittelalterlichen Latein s. v. a. schreiben, schriftlich abfassen, und pwa_041.031
wird nur von geschriebenen Erzeugnissen gebraucht.

1 pwa_041.032
Hel. V. 32 f.: That scoldun seâ fiorî thuo fingron scrîƀan, settian endi pwa_041.033
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Litt. Gesch. S. 9.
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[41/0059] pwa_041.001 Nun noch die deutschen Ausdrücke. Alt- und echtdeutsch wird pwa_041.002 für Dichten singen oder sagen, oder in tautologischer Verbindung pwa_041.003 singen und sagen gebraucht. Jenes zielt auf den musikalischen Vortrag, pwa_041.004 dieses auf die künstlerische Gestaltung der Sprache; singen und pwa_041.005 sagen vereinigt althochdeutsch und altsächsisch beide Beziehungen. pwa_041.006 Diese Verbindung ist so fest sprichwörtlich, und so wenig hatte man pwa_041.007 Kenntniss von einer andern Art des Vortrages, dass die altsächsische pwa_041.008 Evangelienharmonie (Heliand) sogar von den Evangelisten erzählt, sie pwa_041.009 hätten gesagt und gesungen 1, und Otfried von eben denselben unmittelbar pwa_041.010 neben einander zuerst sagen und dann singen gebraucht 2. Späterhin, pwa_041.011 wo Poesie und Musik sich trennen, trennen sich auch diese pwa_041.012 Ausdrücke, und während sagen von Gedichten gilt, die nur zum pwa_041.013 Lesen bestimmt sind, wird singen von solchen gebraucht, die musikalische pwa_041.014 Begleitung haben. Demgemäss wird ein gesungenes Gedicht pwa_041.015 sanc oder liet (d. h. Strophe), ein bloss gelesenes buoch genannt. pwa_041.016 Der älteste nationale Ausdruck für Dichter ist nicht Barde: denn pwa_041.017 Barden hat es nach dem einstimmigen Zeugniss der Alten, der Griechen pwa_041.018 sowie der Römer, nur bei den Galliern gegęben. Und wenn pwa_041.019 Tacitus in der Germania cp. 3 den germanischen Schlachtgesang barditus 3 pwa_041.020 nennt, so ist damit nicht sowohl das Lied selbst, als vielmehr pwa_041.021 die Art des Vortrages, der relatus gemeint: barditus ist ein Schildgesang, pwa_041.022 von barđi Schild, so genannt, weil die alten Deutschen den pwa_041.023 Schild vor den Mund hielten, damit der Ton rauher anschwelle. Der pwa_041.024 älteste Name des Dichters ist scof 4, von der Wurzel schaffen, wie pwa_041.025 ποιητής von ποιέω. Im Altnordischen heisst er skâld, von schelten, pwa_041.026 mit Bezug auf die satirische Richtung der Poesie. Die jetzt üblichen pwa_041.027 Worte dichten, Dichter, Gedicht, altdeutsch tihten (daher noch jetzt pwa_041.028 tichten und trachten), tihtaere, getihte kommen vom lateinischen dictare, pwa_041.029 dem Frequentativum und Intensivum von dicere; dictare aber bedeutet pwa_041.030 im mittelalterlichen Latein s. v. a. schreiben, schriftlich abfassen, und pwa_041.031 wird nur von geschriebenen Erzeugnissen gebraucht. 1 pwa_041.032 Hel. V. 32 f.: That scoldun seâ fiorî thuo fingron scrîƀan, settian endi pwa_041.033 singan endi seggean forth u. s. w. 2 pwa_041.034 Otfr. 1, 1; LB. 14, 84, 25. 29: Thaʒ Kristes uuort uns sagetun ... Uuanta pwa_041.035 sie iʒ gisungun. 3 pwa_041.036 Litt. Gesch. S. 9. 4 pwa_041.037 Litt. Gesch. S. 11. 41.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/59>, abgerufen am 24.11.2024.