Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_059.001 pwa_059.015 pwa_059.019 pwa_059.039 pwa_059.001 pwa_059.015 pwa_059.019 pwa_059.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0077" n="59"/> <p><lb n="pwa_059.001"/> Ein Verfahren bei der Darstellung, wie das so eben geschilderte, <lb n="pwa_059.002"/> ist nicht bloss in dem nationalen Zusammenleben Aller bedingt und <lb n="pwa_059.003"/> begründet: es findet noch einen unausweichlichen Anlass in der alten <lb n="pwa_059.004"/> Art und Weise der weiteren Mittheilung und Ueberlieferung poetischer <lb n="pwa_059.005"/> Productionen. Jenes Zeitalter kennt nämlich entweder noch gar keine <lb n="pwa_059.006"/> Schrift, oder man empfindet wenigstens noch kein Bedürfniss, sie mit <lb n="pwa_059.007"/> Häufigkeit und Geläufigkeit anzuwenden und für den täglich wiederkehrenden <lb n="pwa_059.008"/> Gebrauch schreiben und lesen zu lernen. So bei den Griechen <lb n="pwa_059.009"/> Homers, bei den Galliern Cäsars, bei den Germanen des Tacitus, <lb n="pwa_059.010"/> so auch bei den Serben. Da bleibt also für Gedichte nur die mündliche <lb n="pwa_059.011"/> Mittheilung übrig: bei der aber muss sich, wenn sie irgend <lb n="pwa_059.012"/> durchgreifend ist, alles das von selbst beseitigen, was nicht in Geist <lb n="pwa_059.013"/> und Mund aller Stammes- und Sprachgenossen gleichsam freiwillig <lb n="pwa_059.014"/> wiederklingt.</p> <p><lb n="pwa_059.015"/> Es bleibt nun mit einigen näher gehenden Zügen ein Bild dieser <lb n="pwa_059.016"/> mündlichen Ueberlieferung zu entwerfen und dabei zu betrachten, <lb n="pwa_059.017"/> welchen Einfluss dieselbe auf Anschauung und Darstellung habe ausüben <lb n="pwa_059.018"/> müssen.</p> <p><lb n="pwa_059.019"/> Die Mittheilung geschah durch Gesang, und den Gesang begleitete <lb n="pwa_059.020"/> Saitenspiel: also verschwistert mit der Musik, von ihr gehalten <lb n="pwa_059.021"/> und getragen, gieng das Epos von Ort zu Ort, von Geschlecht zu <lb n="pwa_059.022"/> Geschlecht; ja es kam wohl noch ein Drittes hinzu, noch eine dritte <lb n="pwa_059.023"/> transitorische und rhythmische Kunst, die Kunst des Tanzes. So <lb n="pwa_059.024"/> brauchten die alten Ditmarsen ihre epischen Lieder zugleich als Tanzlieder: <lb n="pwa_059.025"/> Einer sang vor, die Andern nach und tanzten dabei; und <lb n="pwa_059.026"/> ebenso wird das Lied, das Demodokos bei den Phäaken singt, von <lb n="pwa_059.027"/> einer Schaar von Jünglingen mit Tanze begleitet. In dieser Weise <lb n="pwa_059.028"/> waren auch auf einem der ältesten und berühmtesten griechischen <lb n="pwa_059.029"/> Kunstwerke, dem Kasten des Kypselus, die Musen dargestellt: in <lb n="pwa_059.030"/> der Mitte Apollo als Vorsänger, um ihn die Musen als Chor, als <lb n="pwa_059.031"/> tanzende Schaar: Pausan. 5, 18. Daraus erklärt und ergänzt sich <lb n="pwa_059.032"/> eine Stelle der Ilias 1, 603 f., wo der Olymp und die Tafel der <lb n="pwa_059.033"/> Götter beschrieben wird: Apollo hielt die Phorminx, die Cither, die <lb n="pwa_059.034"/> Musen <foreign xml:lang="grc">ἄειδον ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ</foreign>, sangen wechselnd, antwortend, <lb n="pwa_059.035"/> nicht unter einander, sondern mit Apollo: er sang vor, sie nach, und <lb n="pwa_059.036"/> da sie ja zugleich Göttinnen des Tanzes waren, hat man sich die <lb n="pwa_059.037"/> Neune auch hier nicht stillstehend zu denken, sondern zugleich tanzend, <lb n="pwa_059.038"/> wie dort auf dem Kasten des Kypselus.</p> <p><lb n="pwa_059.039"/> Indessen nicht Jeder kann singen und spielen; auf Manchem ruht <lb n="pwa_059.040"/> vorzugsweise die Lust und die Gabe des Gesanges; und so bildet sich <lb n="pwa_059.041"/> aus dem ganzen dichtenden und singenden Volke heraus ein eigner </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0077]
pwa_059.001
Ein Verfahren bei der Darstellung, wie das so eben geschilderte, pwa_059.002
ist nicht bloss in dem nationalen Zusammenleben Aller bedingt und pwa_059.003
begründet: es findet noch einen unausweichlichen Anlass in der alten pwa_059.004
Art und Weise der weiteren Mittheilung und Ueberlieferung poetischer pwa_059.005
Productionen. Jenes Zeitalter kennt nämlich entweder noch gar keine pwa_059.006
Schrift, oder man empfindet wenigstens noch kein Bedürfniss, sie mit pwa_059.007
Häufigkeit und Geläufigkeit anzuwenden und für den täglich wiederkehrenden pwa_059.008
Gebrauch schreiben und lesen zu lernen. So bei den Griechen pwa_059.009
Homers, bei den Galliern Cäsars, bei den Germanen des Tacitus, pwa_059.010
so auch bei den Serben. Da bleibt also für Gedichte nur die mündliche pwa_059.011
Mittheilung übrig: bei der aber muss sich, wenn sie irgend pwa_059.012
durchgreifend ist, alles das von selbst beseitigen, was nicht in Geist pwa_059.013
und Mund aller Stammes- und Sprachgenossen gleichsam freiwillig pwa_059.014
wiederklingt.
pwa_059.015
Es bleibt nun mit einigen näher gehenden Zügen ein Bild dieser pwa_059.016
mündlichen Ueberlieferung zu entwerfen und dabei zu betrachten, pwa_059.017
welchen Einfluss dieselbe auf Anschauung und Darstellung habe ausüben pwa_059.018
müssen.
pwa_059.019
Die Mittheilung geschah durch Gesang, und den Gesang begleitete pwa_059.020
Saitenspiel: also verschwistert mit der Musik, von ihr gehalten pwa_059.021
und getragen, gieng das Epos von Ort zu Ort, von Geschlecht zu pwa_059.022
Geschlecht; ja es kam wohl noch ein Drittes hinzu, noch eine dritte pwa_059.023
transitorische und rhythmische Kunst, die Kunst des Tanzes. So pwa_059.024
brauchten die alten Ditmarsen ihre epischen Lieder zugleich als Tanzlieder: pwa_059.025
Einer sang vor, die Andern nach und tanzten dabei; und pwa_059.026
ebenso wird das Lied, das Demodokos bei den Phäaken singt, von pwa_059.027
einer Schaar von Jünglingen mit Tanze begleitet. In dieser Weise pwa_059.028
waren auch auf einem der ältesten und berühmtesten griechischen pwa_059.029
Kunstwerke, dem Kasten des Kypselus, die Musen dargestellt: in pwa_059.030
der Mitte Apollo als Vorsänger, um ihn die Musen als Chor, als pwa_059.031
tanzende Schaar: Pausan. 5, 18. Daraus erklärt und ergänzt sich pwa_059.032
eine Stelle der Ilias 1, 603 f., wo der Olymp und die Tafel der pwa_059.033
Götter beschrieben wird: Apollo hielt die Phorminx, die Cither, die pwa_059.034
Musen ἄειδον ἀμειβόμεναι ὀπὶ καλῇ, sangen wechselnd, antwortend, pwa_059.035
nicht unter einander, sondern mit Apollo: er sang vor, sie nach, und pwa_059.036
da sie ja zugleich Göttinnen des Tanzes waren, hat man sich die pwa_059.037
Neune auch hier nicht stillstehend zu denken, sondern zugleich tanzend, pwa_059.038
wie dort auf dem Kasten des Kypselus.
pwa_059.039
Indessen nicht Jeder kann singen und spielen; auf Manchem ruht pwa_059.040
vorzugsweise die Lust und die Gabe des Gesanges; und so bildet sich pwa_059.041
aus dem ganzen dichtenden und singenden Volke heraus ein eigner
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |