Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_070.001 pwa_070.011 pwa_070.016 pwa_070.019 pwa_070.029 pwa_070.001 pwa_070.011 pwa_070.016 pwa_070.019 pwa_070.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0088" n="70"/><lb n="pwa_070.001"/> die den Uebergang bilden und bezeichnen. Wie der architectonische <lb n="pwa_070.002"/> Schmuck erst zum Relief werden musste, eh die Bildhauerei mit ganz <lb n="pwa_070.003"/> runden Figuren auftreten konnte, so musste sich das Epos erst nur <lb n="pwa_070.004"/> lyrisch färben und immer mehr und mehr lyrisch färben, bis sich <lb n="pwa_070.005"/> zuletzt eine vollkommene Lyrik ergab; man musste sodann die Vermittlung <lb n="pwa_070.006"/> der Lyrik und des Epos erst versuchen, bald vom lyrischen, <lb n="pwa_070.007"/> bald vom epischen Standpunkte aus, bis man die rechte Mischung <lb n="pwa_070.008"/> und mit ihr das eigentliche Drama fand. Dergleichen Uebergangsformen <lb n="pwa_070.009"/> liegen besonders vor der Lyrik; weniger vor dem Drama: das <lb n="pwa_070.010"/> fand sich leichter, sobald erst jene beiden vorhanden waren.</p> <p><lb n="pwa_070.011"/> Wir wollen jene episch-lyrischen Zwischenarten, je nachdem <lb n="pwa_070.012"/> noch das Epische oder schon das Lyrische in ihnen vorwaltet, theils <lb n="pwa_070.013"/> mit in den jetzt noch vorliegenden Abschnitt ziehen, welcher der <lb n="pwa_070.014"/> weitern Betrachtung der Epik gewidmet ist, theils in den nachfolgenden, <lb n="pwa_070.015"/> der von der lyrischen Poesie handeln soll.</p> <p><lb n="pwa_070.016"/> Jetzt also begleiten wir noch den Entwicklungsgang der epischen <lb n="pwa_070.017"/> Poesie auf die zweite Stufe, die Stufe der individuellen Subjectivität: <lb n="pwa_070.018"/> die erste, die der nationalen Objectivität, haben wir hinter uns.</p> <p><lb n="pwa_070.019"/> Man nehme jedoch das Wort Subjectivität nicht in eben demselben <lb n="pwa_070.020"/> vollen, verschärften Sinne, in welchem z. B. die romantische Poesie <lb n="pwa_070.021"/> gegenüber der classischen, oder die Schillerische gegenüber der Göthischen <lb n="pwa_070.022"/> subjectiv zu nennen ist: denn es soll auch auf classische und <lb n="pwa_070.023"/> auf Göthische Gedichte seine Anwendung finden; es soll nicht überall <lb n="pwa_070.024"/> ein ungebührliches Vorwalten, sondern jedes, auch das leiseste Eingreifen <lb n="pwa_070.025"/> der Fähigkeiten und Neigungen des dichtenden Subjectes <lb n="pwa_070.026"/> bezeichnen, wie das unvermeidlich wird, sobald einmal das Individuum <lb n="pwa_070.027"/> dichtet: es soll überhaupt nur die Abweichung bezeichnen von jener <lb n="pwa_070.028"/> vollkommenen, unverkürzten Objectivität der altepischen Zeiten.</p> <p><lb n="pwa_070.029"/> Es kann nun aber das dichtende Individuum durch seine subjectiven <lb n="pwa_070.030"/> Neigungen und Fähigkeiten darauf hingewiesen werden, beim <lb n="pwa_070.031"/> Erfassen der epischen Anschauung besonders thätig zu sein entweder <lb n="pwa_070.032"/> von Seiten der Einbildung oder des Gefühls oder des Verstandes, <lb n="pwa_070.033"/> und es giebt somit Epik der Einbildungskraft, des Gefühls und des <lb n="pwa_070.034"/> Verstandes. In der Epik der Einbildungskraft erhalten wir dann die <lb n="pwa_070.035"/> unmittelbare Fortsetzung der früheren nationalen Epik, in der des <lb n="pwa_070.036"/> Gefühles die vermittelnde Anbahnung der späteren Lyrik; in der Epik <lb n="pwa_070.037"/> des Verstandes aber sehen wir die Anschauung auf eine geistige <lb n="pwa_070.038"/> Kraft bezogen, der weder hier noch sonst irgendwo in der Poesie <lb n="pwa_070.039"/> eine solche positive Einwirkung gebührte; wir sehen da eine bald <lb n="pwa_070.040"/> leichtere, bald schwerere Entartung der Kunst, wie sie anderweitig <lb n="pwa_070.041"/> auch auf dem Gebiete der Lyrik nicht ausgeblieben ist. Wir können, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0088]
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die den Uebergang bilden und bezeichnen. Wie der architectonische pwa_070.002
Schmuck erst zum Relief werden musste, eh die Bildhauerei mit ganz pwa_070.003
runden Figuren auftreten konnte, so musste sich das Epos erst nur pwa_070.004
lyrisch färben und immer mehr und mehr lyrisch färben, bis sich pwa_070.005
zuletzt eine vollkommene Lyrik ergab; man musste sodann die Vermittlung pwa_070.006
der Lyrik und des Epos erst versuchen, bald vom lyrischen, pwa_070.007
bald vom epischen Standpunkte aus, bis man die rechte Mischung pwa_070.008
und mit ihr das eigentliche Drama fand. Dergleichen Uebergangsformen pwa_070.009
liegen besonders vor der Lyrik; weniger vor dem Drama: das pwa_070.010
fand sich leichter, sobald erst jene beiden vorhanden waren.
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Wir wollen jene episch-lyrischen Zwischenarten, je nachdem pwa_070.012
noch das Epische oder schon das Lyrische in ihnen vorwaltet, theils pwa_070.013
mit in den jetzt noch vorliegenden Abschnitt ziehen, welcher der pwa_070.014
weitern Betrachtung der Epik gewidmet ist, theils in den nachfolgenden, pwa_070.015
der von der lyrischen Poesie handeln soll.
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Jetzt also begleiten wir noch den Entwicklungsgang der epischen pwa_070.017
Poesie auf die zweite Stufe, die Stufe der individuellen Subjectivität: pwa_070.018
die erste, die der nationalen Objectivität, haben wir hinter uns.
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Man nehme jedoch das Wort Subjectivität nicht in eben demselben pwa_070.020
vollen, verschärften Sinne, in welchem z. B. die romantische Poesie pwa_070.021
gegenüber der classischen, oder die Schillerische gegenüber der Göthischen pwa_070.022
subjectiv zu nennen ist: denn es soll auch auf classische und pwa_070.023
auf Göthische Gedichte seine Anwendung finden; es soll nicht überall pwa_070.024
ein ungebührliches Vorwalten, sondern jedes, auch das leiseste Eingreifen pwa_070.025
der Fähigkeiten und Neigungen des dichtenden Subjectes pwa_070.026
bezeichnen, wie das unvermeidlich wird, sobald einmal das Individuum pwa_070.027
dichtet: es soll überhaupt nur die Abweichung bezeichnen von jener pwa_070.028
vollkommenen, unverkürzten Objectivität der altepischen Zeiten.
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Es kann nun aber das dichtende Individuum durch seine subjectiven pwa_070.030
Neigungen und Fähigkeiten darauf hingewiesen werden, beim pwa_070.031
Erfassen der epischen Anschauung besonders thätig zu sein entweder pwa_070.032
von Seiten der Einbildung oder des Gefühls oder des Verstandes, pwa_070.033
und es giebt somit Epik der Einbildungskraft, des Gefühls und des pwa_070.034
Verstandes. In der Epik der Einbildungskraft erhalten wir dann die pwa_070.035
unmittelbare Fortsetzung der früheren nationalen Epik, in der des pwa_070.036
Gefühles die vermittelnde Anbahnung der späteren Lyrik; in der Epik pwa_070.037
des Verstandes aber sehen wir die Anschauung auf eine geistige pwa_070.038
Kraft bezogen, der weder hier noch sonst irgendwo in der Poesie pwa_070.039
eine solche positive Einwirkung gebührte; wir sehen da eine bald pwa_070.040
leichtere, bald schwerere Entartung der Kunst, wie sie anderweitig pwa_070.041
auch auf dem Gebiete der Lyrik nicht ausgeblieben ist. Wir können,
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