Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_071.001 pwa_071.003 pwa_071.008 pwa_071.022 pwa_071.001 pwa_071.003 pwa_071.008 pwa_071.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0089" n="71"/><lb n="pwa_071.001"/> wenn wir kurz sein wollen, die erste Art der Epik rein epische Epik, <lb n="pwa_071.002"/> die zweite lyrische Epik, die dritte didactische Epik nennen.</p> <p><lb n="pwa_071.003"/> Nun zunächst zu der <hi rendition="#b">Epik der Einbildung,</hi> zu derjenigen Art <lb n="pwa_071.004"/> epischer Poesie, die man wieder im engeren Sinne des Wortes Epos <lb n="pwa_071.005"/> oder Epopöie zu nennen pflegt, zu den erzählenden Gedichten, die <lb n="pwa_071.006"/> einen grösseren Umfang haben und eine Reihe einzelner Sagen und <lb n="pwa_071.007"/> Mythen an und in einander weben.</p> <p><lb n="pwa_071.008"/> Die alte Freude an epischen Anschauungen behielt das Volk <lb n="pwa_071.009"/> immer noch, auch als es nicht mehr auf jener Stufe geistiger und <lb n="pwa_071.010"/> sittlicher Bildung stand, welche die einfachen epischen Gesänge getragen <lb n="pwa_071.011"/> hatte; es behielt immer noch die Freude an epischer Anschauung <lb n="pwa_071.012"/> und Darstellung, wie denn überhaupt, sobald ein Volk nur irgend <lb n="pwa_071.013"/> poetischen Sinn besitzt, sich der natürlicher Weise zumeist auf diese <lb n="pwa_071.014"/> Seite werfen wird: aber man empfand nicht mehr das reine Wohlgefallen <lb n="pwa_071.015"/> bloss an der schönen Behandlung allbekannter Stoffe: man <lb n="pwa_071.016"/> gewann ein überwiegendes Interesse für die Stoffe an sich selbst. <lb n="pwa_071.017"/> Denn die rechte Vertrautheit mit denselben verschwand, und das <lb n="pwa_071.018"/> wachsende Selbstbewusstsein der Individuen beschränkte die Sagen <lb n="pwa_071.019"/> und Mythen immer mehr in ihrer Ausbreitung über die nationale <lb n="pwa_071.020"/> Gesammtheit. So wollte man denn jetzo mehr hören; die epischen <lb n="pwa_071.021"/> Dichtungen sollten mehr enthalten als ehedem.</p> <p><lb n="pwa_071.022"/> Diesem neuen Bedürfniss kamen bei den Griechen zunächst die <lb n="pwa_071.023"/> Rhapsoden entgegen. Die Aöden hatten ihre epischen Lieder noch <lb n="pwa_071.024"/> gesungen und den Gesang mit Saitenspiel begleitet: sie konnten es <lb n="pwa_071.025"/> bei der Kürze derselben, ohne dass sie selbst oder ihre Zuhörer <lb n="pwa_071.026"/> darüber ermüdet wären; die Rhapsoden legten das Saitenspiel aus <lb n="pwa_071.027"/> der Hand und recitierten statt zu singen: denn für den Gesang wären <lb n="pwa_071.028"/> ihre stoffhaltigen Dichtungen zu lang gewesen. Es waren jedoch <lb n="pwa_071.029"/> diese Dichtungen wohl in den wenigsten Fällen wesentlich und ganz <lb n="pwa_071.030"/> neue: sondern die Rhapsoden wucherten mit dem Pfunde der Aöden, <lb n="pwa_071.031"/> sie fügten und flochten nur an und in einander, was sie bereits poetisch <lb n="pwa_071.032"/> gestaltet vorfanden, hier Lieder über verschiedene Sagen, die <lb n="pwa_071.033"/> sich in Zusammenhang bringen liessen, dort verschiedene Lieder über <lb n="pwa_071.034"/> die gleiche Sage: ein Geschäft, das natürlich nicht wohl von Statten <lb n="pwa_071.035"/> gieng, ohne dass sie selber zuweilen die dichtende Hand mit anlegten, <lb n="pwa_071.036"/> um bald zu kürzen, bald und noch öfter einzuschalten, bald <lb n="pwa_071.037"/> sonst irgendwie zu ändern. Von dieser Art poetischer Thätigkeit <lb n="pwa_071.038"/> rührt auch der Name der Rhapsoden her: es ist eine blosse Grille, <lb n="pwa_071.039"/> sich gegen die einfache Ableitung desselben von <foreign xml:lang="grc">ῥάπτειν ἀοιδήν</foreign> zu <lb n="pwa_071.040"/> sträuben und dieser authentischen Etymologie die unmögliche von <lb n="pwa_071.041"/> <foreign xml:lang="grc">ῥάβδος</foreign> gegenüber zu stellen, welche die Rhapsoden zu Stabsängern </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0089]
pwa_071.001
wenn wir kurz sein wollen, die erste Art der Epik rein epische Epik, pwa_071.002
die zweite lyrische Epik, die dritte didactische Epik nennen.
pwa_071.003
Nun zunächst zu der Epik der Einbildung, zu derjenigen Art pwa_071.004
epischer Poesie, die man wieder im engeren Sinne des Wortes Epos pwa_071.005
oder Epopöie zu nennen pflegt, zu den erzählenden Gedichten, die pwa_071.006
einen grösseren Umfang haben und eine Reihe einzelner Sagen und pwa_071.007
Mythen an und in einander weben.
pwa_071.008
Die alte Freude an epischen Anschauungen behielt das Volk pwa_071.009
immer noch, auch als es nicht mehr auf jener Stufe geistiger und pwa_071.010
sittlicher Bildung stand, welche die einfachen epischen Gesänge getragen pwa_071.011
hatte; es behielt immer noch die Freude an epischer Anschauung pwa_071.012
und Darstellung, wie denn überhaupt, sobald ein Volk nur irgend pwa_071.013
poetischen Sinn besitzt, sich der natürlicher Weise zumeist auf diese pwa_071.014
Seite werfen wird: aber man empfand nicht mehr das reine Wohlgefallen pwa_071.015
bloss an der schönen Behandlung allbekannter Stoffe: man pwa_071.016
gewann ein überwiegendes Interesse für die Stoffe an sich selbst. pwa_071.017
Denn die rechte Vertrautheit mit denselben verschwand, und das pwa_071.018
wachsende Selbstbewusstsein der Individuen beschränkte die Sagen pwa_071.019
und Mythen immer mehr in ihrer Ausbreitung über die nationale pwa_071.020
Gesammtheit. So wollte man denn jetzo mehr hören; die epischen pwa_071.021
Dichtungen sollten mehr enthalten als ehedem.
pwa_071.022
Diesem neuen Bedürfniss kamen bei den Griechen zunächst die pwa_071.023
Rhapsoden entgegen. Die Aöden hatten ihre epischen Lieder noch pwa_071.024
gesungen und den Gesang mit Saitenspiel begleitet: sie konnten es pwa_071.025
bei der Kürze derselben, ohne dass sie selbst oder ihre Zuhörer pwa_071.026
darüber ermüdet wären; die Rhapsoden legten das Saitenspiel aus pwa_071.027
der Hand und recitierten statt zu singen: denn für den Gesang wären pwa_071.028
ihre stoffhaltigen Dichtungen zu lang gewesen. Es waren jedoch pwa_071.029
diese Dichtungen wohl in den wenigsten Fällen wesentlich und ganz pwa_071.030
neue: sondern die Rhapsoden wucherten mit dem Pfunde der Aöden, pwa_071.031
sie fügten und flochten nur an und in einander, was sie bereits poetisch pwa_071.032
gestaltet vorfanden, hier Lieder über verschiedene Sagen, die pwa_071.033
sich in Zusammenhang bringen liessen, dort verschiedene Lieder über pwa_071.034
die gleiche Sage: ein Geschäft, das natürlich nicht wohl von Statten pwa_071.035
gieng, ohne dass sie selber zuweilen die dichtende Hand mit anlegten, pwa_071.036
um bald zu kürzen, bald und noch öfter einzuschalten, bald pwa_071.037
sonst irgendwie zu ändern. Von dieser Art poetischer Thätigkeit pwa_071.038
rührt auch der Name der Rhapsoden her: es ist eine blosse Grille, pwa_071.039
sich gegen die einfache Ableitung desselben von ῥάπτειν ἀοιδήν zu pwa_071.040
sträuben und dieser authentischen Etymologie die unmögliche von pwa_071.041
ῥάβδος gegenüber zu stellen, welche die Rhapsoden zu Stabsängern
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |