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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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genuina forma" vor seiner Ausgabe der Ilias vom Jahre 1795 erschienen pwa_075.002
sind. Die Entstehung des Nibelungenliedes hat Karl Lachmann in pwa_075.003
seiner Abhandlung "Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes pwa_075.004
von der Nibelungen Noth" 1816 und in seinen "Anmerkungen zu den pwa_075.005
Nibelungen" 1836 nachgewiesen.

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Die Umdichter, von denen Ilias, Odyssee und Nibelungenlied pwa_075.007
herrühren, sind alle drei darauf bedacht gewesen, an den kleineren pwa_075.008
Einheiten, von denen sie ausgiengen, die gar zu augenfälligen Spuren pwa_075.009
der ursprünglichen Zusammenhangslosigkeit zu tilgen: sie haben überall pwa_075.010
ausgeglichen, Manches fortgelassen, noch mehr eingeschaltet; so dass pwa_075.011
nun recht im Gegensatze zu der energisch vorwärts schreitenden Entwickelung pwa_075.012
der altepischen Lieder dem neuen Epos eine in behaglicher pwa_075.013
Ausführlichkeit verweilende Breite eigen wurde. Indessen hat diese pwa_075.014
Breite ausserdem auch noch ihre innern Gründe und Zwecke: hätte pwa_075.015
man die energische Darstellung der alten Lieder beibehalten, so wäre pwa_075.016
bei der neuen Fülle des Stoffes und dem schnelleren Fortschritte des pwa_075.017
Vortrages oder der Lectüre der Leser mit Thatsachen wahrhaft überstürzt pwa_075.018
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die Oberhand hatte, so lag doch, eben weil es in solchem Masse vorherrschte, pwa_075.020
den neuen Epikern die Aufgabe ob, Jedem Zeit zu lassen pwa_075.021
zur Beschauung und Auffassung der ungewohnten Mannigfaltigkeit. pwa_075.022
Und so konnten sie denn auch die einzige Saumseligkeit der alten Lieder pwa_075.023
mit in ihre Umdichtung hinübernehmen, jene früher (S. 63) besprochenen pwa_075.024
Wiederholungen und stehenden Redensarten nämlich, obgleich pwa_075.025
dieselben durch die jetzige Weise der Mittheilung in nichts mehr bedingt pwa_075.026
waren: ehedem waren sie unentbehrlich gewesen, um bei der Langsamkeit pwa_075.027
des Gesanges dem Vergessen vorzubeugen: jetzt, wo man pwa_075.028
schrieb und las, waren sie nicht so wohl an der Stelle. Wie in diesem pwa_075.029
Stücke, so schimmert auch sonst der alte aödische und rhapsodische pwa_075.030
Grund noch oft und noch deutlich genug hindurch, so dass er pwa_075.031
der schärfer blickenden Kritik unserer Tage nicht entgehen konnte.

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Sodann gieng das Bestreben der neuen Epiker dahin, den überkommenen pwa_075.033
Sagenschatz, wo möglich ganz zu erschöpfen und auszubeuten pwa_075.034
und nichts unberührt zu lassen, was innerhalb des Kreises pwa_075.035
lag. Konnte nun aber irgend ein Mythus oder eine Sage nicht füglich pwa_075.036
mit in den gradeaus fortschreitenden Verlauf eingereiht werden, pwa_075.037
so hielt man allenfalls inne und schweifte seitwärts zu ihr ab, um pwa_075.038
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Worte, man erlaubte sich Episoden.

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Oft jedoch und sehr oft haben die Episoden nicht grade diesen pwa_075.041
Anlass, sondern sind vielmehr wieder nur eine Nachwirkung der alten

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genuina forma“ vor seiner Ausgabe der Ilias vom Jahre 1795 erschienen pwa_075.002
sind. Die Entstehung des Nibelungenliedes hat Karl Lachmann in pwa_075.003
seiner Abhandlung „Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes pwa_075.004
von der Nibelungen Noth“ 1816 und in seinen „Anmerkungen zu den pwa_075.005
Nibelungen“ 1836 nachgewiesen.

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Die Umdichter, von denen Ilias, Odyssee und Nibelungenlied pwa_075.007
herrühren, sind alle drei darauf bedacht gewesen, an den kleineren pwa_075.008
Einheiten, von denen sie ausgiengen, die gar zu augenfälligen Spuren pwa_075.009
der ursprünglichen Zusammenhangslosigkeit zu tilgen: sie haben überall pwa_075.010
ausgeglichen, Manches fortgelassen, noch mehr eingeschaltet; so dass pwa_075.011
nun recht im Gegensatze zu der energisch vorwärts schreitenden Entwickelung pwa_075.012
der altepischen Lieder dem neuen Epos eine in behaglicher pwa_075.013
Ausführlichkeit verweilende Breite eigen wurde. Indessen hat diese pwa_075.014
Breite ausserdem auch noch ihre innern Gründe und Zwecke: hätte pwa_075.015
man die energische Darstellung der alten Lieder beibehalten, so wäre pwa_075.016
bei der neuen Fülle des Stoffes und dem schnelleren Fortschritte des pwa_075.017
Vortrages oder der Lectüre der Leser mit Thatsachen wahrhaft überstürzt pwa_075.018
und überschüttet worden; so sehr das stoffartige Interesse jetzt pwa_075.019
die Oberhand hatte, so lag doch, eben weil es in solchem Masse vorherrschte, pwa_075.020
den neuen Epikern die Aufgabe ob, Jedem Zeit zu lassen pwa_075.021
zur Beschauung und Auffassung der ungewohnten Mannigfaltigkeit. pwa_075.022
Und so konnten sie denn auch die einzige Saumseligkeit der alten Lieder pwa_075.023
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Wiederholungen und stehenden Redensarten nämlich, obgleich pwa_075.025
dieselben durch die jetzige Weise der Mittheilung in nichts mehr bedingt pwa_075.026
waren: ehedem waren sie unentbehrlich gewesen, um bei der Langsamkeit pwa_075.027
des Gesanges dem Vergessen vorzubeugen: jetzt, wo man pwa_075.028
schrieb und las, waren sie nicht so wohl an der Stelle. Wie in diesem pwa_075.029
Stücke, so schimmert auch sonst der alte aödische und rhapsodische pwa_075.030
Grund noch oft und noch deutlich genug hindurch, so dass er pwa_075.031
der schärfer blickenden Kritik unserer Tage nicht entgehen konnte.

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Sodann gieng das Bestreben der neuen Epiker dahin, den überkommenen pwa_075.033
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/93>, abgerufen am 21.11.2024.