Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_080.001 pwa_080.018 pwa_080.021 pwa_080.032 pwa_080.001 pwa_080.018 pwa_080.021 pwa_080.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0098" n="80"/><lb n="pwa_080.001"/> vorübergehende Unterhaltung ab, hier bedurfte der Dichter solch eines <lb n="pwa_080.002"/> altbewährten Stoffes nicht: er selbst und seine Zeit konnten sich frisch <lb n="pwa_080.003"/> in den Vordergrund stellen, er konnte Ereignisse des Tages erzählen, <lb n="pwa_080.004"/> ja sogar alles selber erst erfinden, und dennoch durfte er der Wirkung <lb n="pwa_080.005"/> gewiss sein. In der Epopöie zeigt sodann das dichtende Individuum <lb n="pwa_080.006"/> seine zurückhaltende Bescheidenheit auch darin, dass es sich <lb n="pwa_080.007"/> nur selten und nur in leiser Andeutung einen Widerspruch gegen die <lb n="pwa_080.008"/> angeschaute Wirklichkeit gestattet; die Epopöie duldet also Spott und <lb n="pwa_080.009"/> Laune höchstens nur hin und wieder: in der Erzählung sind sie zu <lb n="pwa_080.010"/> Hause, und die Dichter lieben es hier, ihre freiere Thätigkeit auch <lb n="pwa_080.011"/> dadurch kund zu thun, dass sie den Verlauf der Thatsachen vom <lb n="pwa_080.012"/> Anfang an bis zum Ende mit dem Lachen des Verstandes oder des <lb n="pwa_080.013"/> Gefühles, mit Laune oder Spott begleiten. Es gab mithin neben der <lb n="pwa_080.014"/> Epopöie wohl komische Erzählungen, wie bei den Griechen der verlorene <lb n="pwa_080.015"/> und Homer zugeschriebene Margites, und im Mittelalter bei <lb n="pwa_080.016"/> Deutschen und Franzosen so viele, dass ich keine einzelne zu nennen <lb n="pwa_080.017"/> wüsste: aber komische Epen gab es nicht.</p> <p><lb n="pwa_080.018"/> Bisher haben wir zuerst von den Anfängen, dann von den weiter <lb n="pwa_080.019"/> entwickelnden Fortschritten der Epik gesprochen: jetzt ist noch von <lb n="pwa_080.020"/> ihrem Untergang zu sprechen.</p> <p><lb n="pwa_080.021"/> All die Neuerungen auf dem Gebiete der epischen Poesie, das <lb n="pwa_080.022"/> Anschliessen an einzelne abgerissene Begebenheiten, das Ablenken <lb n="pwa_080.023"/> von der alten Sagenwelt, das in Spott und Laune beurtheilende Eingreifen <lb n="pwa_080.024"/> des Subjectes, das schon früher berührte bloss stoffartige, auf <lb n="pwa_080.025"/> Idee und Form wenig mehr achtende Interesse, endlich das taubstumme <lb n="pwa_080.026"/> Schreiben und Lesen, wodurch allgemach die gesammte epische <lb n="pwa_080.027"/> Poesie dem lebendigen Verkehr war entfremdet worden: alles <lb n="pwa_080.028"/> das musste ihr bald den Untergang bereiten: wie sie mit Gesang <lb n="pwa_080.029"/> begonnen hatte, so schlug sie zuletzt in Prosa um; neben das entschwindende <lb n="pwa_080.030"/> Epos und an die Stelle des entschwundenen rückte die <lb n="pwa_080.031"/> <hi rendition="#b">Geschichtsschreibung.</hi></p> <p><lb n="pwa_080.032"/> Ueberall jedoch, in der Geschichte der Menschheit wie in der <lb n="pwa_080.033"/> Natur, wird der Gegensatz vermittelt durch Zwischenglieder und einleitende <lb n="pwa_080.034"/> Uebergangsstufen. So auch der Gegensatz der epischen Poesie <lb n="pwa_080.035"/> und der historischen Prosa. Die moderne Geschichtsschreibung beginnt <lb n="pwa_080.036"/> schon innerhalb des Epos, und das moderne Epos reicht noch hinüber <lb n="pwa_080.037"/> bis in die Geschichtsschreibung. Denn der Verfall der epischen Poesie <lb n="pwa_080.038"/> des Mittelalters wird dadurch bezeichnet, dass ziemlich zahlreiche Werke <lb n="pwa_080.039"/> entstehn, die mit derselben zwar noch die Form des Verses und des <lb n="pwa_080.040"/> Reimes, sonst aber wenig gemein haben, deren Inhalt baare, unpoetische <lb n="pwa_080.041"/> Geschichte bildet, Chroniken und Biographien. Auf der andern </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0098]
pwa_080.001
vorübergehende Unterhaltung ab, hier bedurfte der Dichter solch eines pwa_080.002
altbewährten Stoffes nicht: er selbst und seine Zeit konnten sich frisch pwa_080.003
in den Vordergrund stellen, er konnte Ereignisse des Tages erzählen, pwa_080.004
ja sogar alles selber erst erfinden, und dennoch durfte er der Wirkung pwa_080.005
gewiss sein. In der Epopöie zeigt sodann das dichtende Individuum pwa_080.006
seine zurückhaltende Bescheidenheit auch darin, dass es sich pwa_080.007
nur selten und nur in leiser Andeutung einen Widerspruch gegen die pwa_080.008
angeschaute Wirklichkeit gestattet; die Epopöie duldet also Spott und pwa_080.009
Laune höchstens nur hin und wieder: in der Erzählung sind sie zu pwa_080.010
Hause, und die Dichter lieben es hier, ihre freiere Thätigkeit auch pwa_080.011
dadurch kund zu thun, dass sie den Verlauf der Thatsachen vom pwa_080.012
Anfang an bis zum Ende mit dem Lachen des Verstandes oder des pwa_080.013
Gefühles, mit Laune oder Spott begleiten. Es gab mithin neben der pwa_080.014
Epopöie wohl komische Erzählungen, wie bei den Griechen der verlorene pwa_080.015
und Homer zugeschriebene Margites, und im Mittelalter bei pwa_080.016
Deutschen und Franzosen so viele, dass ich keine einzelne zu nennen pwa_080.017
wüsste: aber komische Epen gab es nicht.
pwa_080.018
Bisher haben wir zuerst von den Anfängen, dann von den weiter pwa_080.019
entwickelnden Fortschritten der Epik gesprochen: jetzt ist noch von pwa_080.020
ihrem Untergang zu sprechen.
pwa_080.021
All die Neuerungen auf dem Gebiete der epischen Poesie, das pwa_080.022
Anschliessen an einzelne abgerissene Begebenheiten, das Ablenken pwa_080.023
von der alten Sagenwelt, das in Spott und Laune beurtheilende Eingreifen pwa_080.024
des Subjectes, das schon früher berührte bloss stoffartige, auf pwa_080.025
Idee und Form wenig mehr achtende Interesse, endlich das taubstumme pwa_080.026
Schreiben und Lesen, wodurch allgemach die gesammte epische pwa_080.027
Poesie dem lebendigen Verkehr war entfremdet worden: alles pwa_080.028
das musste ihr bald den Untergang bereiten: wie sie mit Gesang pwa_080.029
begonnen hatte, so schlug sie zuletzt in Prosa um; neben das entschwindende pwa_080.030
Epos und an die Stelle des entschwundenen rückte die pwa_080.031
Geschichtsschreibung.
pwa_080.032
Ueberall jedoch, in der Geschichte der Menschheit wie in der pwa_080.033
Natur, wird der Gegensatz vermittelt durch Zwischenglieder und einleitende pwa_080.034
Uebergangsstufen. So auch der Gegensatz der epischen Poesie pwa_080.035
und der historischen Prosa. Die moderne Geschichtsschreibung beginnt pwa_080.036
schon innerhalb des Epos, und das moderne Epos reicht noch hinüber pwa_080.037
bis in die Geschichtsschreibung. Denn der Verfall der epischen Poesie pwa_080.038
des Mittelalters wird dadurch bezeichnet, dass ziemlich zahlreiche Werke pwa_080.039
entstehn, die mit derselben zwar noch die Form des Verses und des pwa_080.040
Reimes, sonst aber wenig gemein haben, deren Inhalt baare, unpoetische pwa_080.041
Geschichte bildet, Chroniken und Biographien. Auf der andern
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |