Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_079.001 pwa_079.015 pwa_079.025 pwa_079.029 pwa_079.001 pwa_079.015 pwa_079.025 pwa_079.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0097" n="79"/><lb n="pwa_079.001"/> Heldensage bestand (wenn wir von einer oder zwei nicht einmal <lb n="pwa_079.002"/> recht sicheren Ausnahmen absehn dürfen) noch einige Zeit hindurch <lb n="pwa_079.003"/> die alte Liederform, bis auch sie in dem Sammler der Nibelungen <lb n="pwa_079.004"/> ihren Homer fand und nach ihm ihre in freier Individualität <lb n="pwa_079.005"/> selbständigen und selbstthätigen cyclischen Epiker. Diess historische <lb n="pwa_079.006"/> Verhältniss ist von Wichtigkeit: denn es lehrt, dass die Nibelungen <lb n="pwa_079.007"/> mit den s. g. Homerischen Dichtungen nicht genau auf einer und derselben <lb n="pwa_079.008"/> Stufe stehn. Nicht die deutsche Epopöie überhaupt, sondern <lb n="pwa_079.009"/> nur die Epopöie der deutschen Heldensage beginnt mit den Nibelungen, <lb n="pwa_079.010"/> während Ilias und Odyssee den Anfang aller und jeder griechischen <lb n="pwa_079.011"/> Epopöie bilden. Der Sammler der Nibelungen fand schon <lb n="pwa_079.012"/> genug epische Dichtungen andrer Art vor, um an ihnen jene hohe <lb n="pwa_079.013"/> Kunst der Composition zu lernen: der Sammler der Ilias aber musste <lb n="pwa_079.014"/> ganz aus eigener Kraft den ersten Wurf thun.</p> <p><lb n="pwa_079.015"/> Durch die neuen Epiker ward man so daran gewöhnt, epische <lb n="pwa_079.016"/> Dichtungen bloss für die Schrift, für das Lesen und Lesenhören zu <lb n="pwa_079.017"/> verfassen, dass man nun selbst da, wo die Einfachheit des Stoffes <lb n="pwa_079.018"/> und der geringe Umfang gar wohl die sangbare Form zugelassen <lb n="pwa_079.019"/> hätten, selbst da nur noch die unsangbare in Anwendung brachte. <lb n="pwa_079.020"/> So besitzt die deutsche Litteratur aus dem zwölften Jahrhundert und <lb n="pwa_079.021"/> den folgenden eine Menge von Legenden und Sagen und Märchen, <lb n="pwa_079.022"/> erzählt in der Form der kurzen Reimpaare: vor jenem Zeitraum hätte <lb n="pwa_079.023"/> man dieselben Stoffe nur in Liederform, nur durch den Gesang mitzutheilen <lb n="pwa_079.024"/> gewusst.</p> <p><lb n="pwa_079.025"/> In solchen <hi rendition="#b">Erzählungen</hi> (wie man all dergleichen kleinere epische <lb n="pwa_079.026"/> Gedichte der Unterscheidung wegen benennen mag) lernte das Individuum <lb n="pwa_079.027"/> noch um einen Schritt weiter über seine alte Unterordnung <lb n="pwa_079.028"/> hinausgehn.</p> <p><lb n="pwa_079.029"/> Die grösseren Epopöien folgten lediglich dem von alten Zeiten <lb n="pwa_079.030"/> her Ueberlieferten; es fiel da dem Dichter nicht ein, sich um Stoff an <lb n="pwa_079.031"/> die Tagesgeschichte oder gar an die eigene Phantasie zu wenden: nur <lb n="pwa_079.032"/> dem, was durch die nationale Tradition geheiligt war, nur dem was im <lb n="pwa_079.033"/> Lauf der wechselnden Zeiten und Geschlechter seinen Bestand behauptet <lb n="pwa_079.034"/> und sich bewährt, was sich wie aus sich selbst heraus zu einem <lb n="pwa_079.035"/> reich und schön gegliederten Organismus entwickelt hatte, nur solchen <lb n="pwa_079.036"/> längst belebten und beseelten Anschauungen traute man, und das mit <lb n="pwa_079.037"/> Recht, die Kraft zu, den Leser zu gewinnen und zu fesseln und ihn <lb n="pwa_079.038"/> zu reproducierender Thätigkeit zu nöthigen, nicht aber dem, was <lb n="pwa_079.039"/> heute erst um den Dichter herum geschehen oder gar erst heute von <lb n="pwa_079.040"/> ihm erfunden wäre. Anders bei den kleineren, weniger enthaltenden, <lb n="pwa_079.041"/> minder ausgedehnten Erzählungen. Hier sah man es mehr nur auf </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0097]
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Heldensage bestand (wenn wir von einer oder zwei nicht einmal pwa_079.002
recht sicheren Ausnahmen absehn dürfen) noch einige Zeit hindurch pwa_079.003
die alte Liederform, bis auch sie in dem Sammler der Nibelungen pwa_079.004
ihren Homer fand und nach ihm ihre in freier Individualität pwa_079.005
selbständigen und selbstthätigen cyclischen Epiker. Diess historische pwa_079.006
Verhältniss ist von Wichtigkeit: denn es lehrt, dass die Nibelungen pwa_079.007
mit den s. g. Homerischen Dichtungen nicht genau auf einer und derselben pwa_079.008
Stufe stehn. Nicht die deutsche Epopöie überhaupt, sondern pwa_079.009
nur die Epopöie der deutschen Heldensage beginnt mit den Nibelungen, pwa_079.010
während Ilias und Odyssee den Anfang aller und jeder griechischen pwa_079.011
Epopöie bilden. Der Sammler der Nibelungen fand schon pwa_079.012
genug epische Dichtungen andrer Art vor, um an ihnen jene hohe pwa_079.013
Kunst der Composition zu lernen: der Sammler der Ilias aber musste pwa_079.014
ganz aus eigener Kraft den ersten Wurf thun.
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Durch die neuen Epiker ward man so daran gewöhnt, epische pwa_079.016
Dichtungen bloss für die Schrift, für das Lesen und Lesenhören zu pwa_079.017
verfassen, dass man nun selbst da, wo die Einfachheit des Stoffes pwa_079.018
und der geringe Umfang gar wohl die sangbare Form zugelassen pwa_079.019
hätten, selbst da nur noch die unsangbare in Anwendung brachte. pwa_079.020
So besitzt die deutsche Litteratur aus dem zwölften Jahrhundert und pwa_079.021
den folgenden eine Menge von Legenden und Sagen und Märchen, pwa_079.022
erzählt in der Form der kurzen Reimpaare: vor jenem Zeitraum hätte pwa_079.023
man dieselben Stoffe nur in Liederform, nur durch den Gesang mitzutheilen pwa_079.024
gewusst.
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In solchen Erzählungen (wie man all dergleichen kleinere epische pwa_079.026
Gedichte der Unterscheidung wegen benennen mag) lernte das Individuum pwa_079.027
noch um einen Schritt weiter über seine alte Unterordnung pwa_079.028
hinausgehn.
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Die grösseren Epopöien folgten lediglich dem von alten Zeiten pwa_079.030
her Ueberlieferten; es fiel da dem Dichter nicht ein, sich um Stoff an pwa_079.031
die Tagesgeschichte oder gar an die eigene Phantasie zu wenden: nur pwa_079.032
dem, was durch die nationale Tradition geheiligt war, nur dem was im pwa_079.033
Lauf der wechselnden Zeiten und Geschlechter seinen Bestand behauptet pwa_079.034
und sich bewährt, was sich wie aus sich selbst heraus zu einem pwa_079.035
reich und schön gegliederten Organismus entwickelt hatte, nur solchen pwa_079.036
längst belebten und beseelten Anschauungen traute man, und das mit pwa_079.037
Recht, die Kraft zu, den Leser zu gewinnen und zu fesseln und ihn pwa_079.038
zu reproducierender Thätigkeit zu nöthigen, nicht aber dem, was pwa_079.039
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ihm erfunden wäre. Anders bei den kleineren, weniger enthaltenden, pwa_079.041
minder ausgedehnten Erzählungen. Hier sah man es mehr nur auf
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