Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_078.001 pwa_078.011 pwa_078.001 pwa_078.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0096" n="78"/><lb n="pwa_078.001"/> Einheit. Das jedoch hat der Umdichter der Nibelungen vielleicht <lb n="pwa_078.002"/> noch weniger verstanden als der der Iliade, seinen Zusätzen einen <lb n="pwa_078.003"/> gewissen Einklang mit den alten Liedern und Rhapsodien zu geben und <lb n="pwa_078.004"/> die Ungleichheiten dieser Lieder und Rhapsodien selbst durch überarbeitende <lb n="pwa_078.005"/> Darstellung zu vermitteln und zu verwischen. Ich sage der <lb n="pwa_078.006"/> alten Lieder und Rhapsodien: er schloss sich nämlich zum Theil noch <lb n="pwa_078.007"/> unmittelbar an den lebendigen Volksgesang an, und nur hin und wieder, <lb n="pwa_078.008"/> namentlich gegen das Ende hin, scheint zwischen seinem Buche <lb n="pwa_078.009"/> und den alten Liedern des Volkes eine Mittelstufe zu liegen, wie die <lb n="pwa_078.010"/> der griechischen Rhapsodien.</p> <p><lb n="pwa_078.011"/> So war nunmehr dem stoffartigen Interesse genug gethan: man <lb n="pwa_078.012"/> besass nun grosse inhaltschwere Heldengedichte und konnte sie <lb n="pwa_078.013"/> lesen statt zu singen und zu sagen. Aber die Individualität hatte <lb n="pwa_078.014"/> ihre Bedeutung in der Poesie einmal kennen gelernt: von dem an <lb n="pwa_078.015"/> versäumte sie es nicht, sich immer mehr und mehr geltend zu machen. <lb n="pwa_078.016"/> Kaum standen bei den Griechen Ilias und Odyssee, bei den Franzosen <lb n="pwa_078.017"/> die Roncevalschlacht fertig da, so wuchs ihnen eine Menge immer <lb n="pwa_078.018"/> neuer Epopöien nach, die sich freilich auch an altüberlieferten Stoff <lb n="pwa_078.019"/> anschlossen und alte Mythen und Sagen und Märchen erzählten; die <lb n="pwa_078.020"/> sich auch die Art und Weise jener in Anschauung und Darstellung <lb n="pwa_078.021"/> zum Muster nahmen und selbst die alte Diction und Versform treu <lb n="pwa_078.022"/> bewahrten, wie die Griechen die Sprache Homers und den Hexameter: <lb n="pwa_078.023"/> in einem Stück jedoch erwies sich die neue Selbständigkeit: <lb n="pwa_078.024"/> man folgte zwar alten Sagen, aber nicht alten Liedern; man überarbeitete <lb n="pwa_078.025"/> nicht bloss, man dichtete nicht mehr um: sondern was man <lb n="pwa_078.026"/> gab, war in dieser seiner Gestalt durchaus neu und eigen. So die <lb n="pwa_078.027"/> nachhomerischen Epiker der Griechen, die man auch Cycliker, <foreign xml:lang="grc">κυκλικοί</foreign>, <lb n="pwa_078.028"/> nannte, weil ihre Gedichte zusammen den ganzen Inbegriff und <lb n="pwa_078.029"/> Umfang der Sage wiedergaben. An sie und an Homer lehnte sich <lb n="pwa_078.030"/> dann die epische Kunstdichtung der Römer, Ennius, Virgil u. s. w. <lb n="pwa_078.031"/> Solcher poetischen Schöpfungen hatten die Franzosen schon im zwölften <lb n="pwa_078.032"/> Jahrhundert genug; durch sie wurden die Deutschen, die bis <lb n="pwa_078.033"/> dahin nur Lieder nach altepischer Art besessen hatten, nun auch mit <lb n="pwa_078.034"/> der umfassenden und unsangbaren Epopöie bekannt. Alsbald versuchten <lb n="pwa_078.035"/> diese auch selber die neue Kunst; die metrische Form dieser <lb n="pwa_078.036"/> deutschen Gedichte war eine höchst einfache, zuerst bloss gereimte <lb n="pwa_078.037"/> Prosa, die sich jedoch allgemach mehr künstlerisch gliederte, zu Versen <lb n="pwa_078.038"/> von vier Hebungen, welche paarweis reimten: aber wie die neue <lb n="pwa_078.039"/> Kunst aus jener Fremde zu ihnen gekommen war, versuchten die <lb n="pwa_078.040"/> Deutschen sie zunächst auch nur an Stoffen jener Fremde, an französischen, <lb n="pwa_078.041"/> provenzalischen und britannischen Sagen: für die einheimische </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0096]
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Einheit. Das jedoch hat der Umdichter der Nibelungen vielleicht pwa_078.002
noch weniger verstanden als der der Iliade, seinen Zusätzen einen pwa_078.003
gewissen Einklang mit den alten Liedern und Rhapsodien zu geben und pwa_078.004
die Ungleichheiten dieser Lieder und Rhapsodien selbst durch überarbeitende pwa_078.005
Darstellung zu vermitteln und zu verwischen. Ich sage der pwa_078.006
alten Lieder und Rhapsodien: er schloss sich nämlich zum Theil noch pwa_078.007
unmittelbar an den lebendigen Volksgesang an, und nur hin und wieder, pwa_078.008
namentlich gegen das Ende hin, scheint zwischen seinem Buche pwa_078.009
und den alten Liedern des Volkes eine Mittelstufe zu liegen, wie die pwa_078.010
der griechischen Rhapsodien.
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So war nunmehr dem stoffartigen Interesse genug gethan: man pwa_078.012
besass nun grosse inhaltschwere Heldengedichte und konnte sie pwa_078.013
lesen statt zu singen und zu sagen. Aber die Individualität hatte pwa_078.014
ihre Bedeutung in der Poesie einmal kennen gelernt: von dem an pwa_078.015
versäumte sie es nicht, sich immer mehr und mehr geltend zu machen. pwa_078.016
Kaum standen bei den Griechen Ilias und Odyssee, bei den Franzosen pwa_078.017
die Roncevalschlacht fertig da, so wuchs ihnen eine Menge immer pwa_078.018
neuer Epopöien nach, die sich freilich auch an altüberlieferten Stoff pwa_078.019
anschlossen und alte Mythen und Sagen und Märchen erzählten; die pwa_078.020
sich auch die Art und Weise jener in Anschauung und Darstellung pwa_078.021
zum Muster nahmen und selbst die alte Diction und Versform treu pwa_078.022
bewahrten, wie die Griechen die Sprache Homers und den Hexameter: pwa_078.023
in einem Stück jedoch erwies sich die neue Selbständigkeit: pwa_078.024
man folgte zwar alten Sagen, aber nicht alten Liedern; man überarbeitete pwa_078.025
nicht bloss, man dichtete nicht mehr um: sondern was man pwa_078.026
gab, war in dieser seiner Gestalt durchaus neu und eigen. So die pwa_078.027
nachhomerischen Epiker der Griechen, die man auch Cycliker, κυκλικοί, pwa_078.028
nannte, weil ihre Gedichte zusammen den ganzen Inbegriff und pwa_078.029
Umfang der Sage wiedergaben. An sie und an Homer lehnte sich pwa_078.030
dann die epische Kunstdichtung der Römer, Ennius, Virgil u. s. w. pwa_078.031
Solcher poetischen Schöpfungen hatten die Franzosen schon im zwölften pwa_078.032
Jahrhundert genug; durch sie wurden die Deutschen, die bis pwa_078.033
dahin nur Lieder nach altepischer Art besessen hatten, nun auch mit pwa_078.034
der umfassenden und unsangbaren Epopöie bekannt. Alsbald versuchten pwa_078.035
diese auch selber die neue Kunst; die metrische Form dieser pwa_078.036
deutschen Gedichte war eine höchst einfache, zuerst bloss gereimte pwa_078.037
Prosa, die sich jedoch allgemach mehr künstlerisch gliederte, zu Versen pwa_078.038
von vier Hebungen, welche paarweis reimten: aber wie die neue pwa_078.039
Kunst aus jener Fremde zu ihnen gekommen war, versuchten die pwa_078.040
Deutschen sie zunächst auch nur an Stoffen jener Fremde, an französischen, pwa_078.041
provenzalischen und britannischen Sagen: für die einheimische
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