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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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als durch Aufgehen der Sehnsucht in einem Gegenstande.
Dieser Gegenstand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬
nens gemäß, aber nur ein endlich, sinnlich und sittlich genau
sich darstellender sein. An einem solchen Gegenstande
findet jedoch die absolute Musik ihre ganz bestimmten
Gränzen; sie vermag, ohne die willkürlichsten Annahmen,
nun und nimmermehr den sinnlich und sittlich bestimmten
Menschen aus sich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬
scheidenden Darstellung zu bringen; sie ist, in ihrer unend¬
lichsten Steigerung, doch immer nur Gefühl; sie tritt im
Geleite der sittlichen That, nicht aber als That selbst
ein; sie kann Gefühle und Stimmungen neben einander
stellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung
aus der andern entwickeln; -- ihr fehlt der moralische
Wille
.

Welche unnachahmliche Kunst wandte Beethoven in
seiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean
unendlichen Sehnens sein Schiff nach dem Hafen der Er¬
füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck seiner
Musik bis fast zum moralischen Entschlusse zu steigern,
dennoch aber nicht ihn selbst auszusprechen; und nach jedem
Ansatze zum Willen fühlen wir uns, ohne sittlichen Anhalt,
von der Möglichkeit beängstigt, eben so gut, als zum Sieg,
auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; -- ja
dieser Rückfall muß uns fast nothwendiger als der moralisch

als durch Aufgehen der Sehnſucht in einem Gegenſtande.
Dieſer Gegenſtand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬
nens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau
ſich darſtellender ſein. An einem ſolchen Gegenſtande
findet jedoch die abſolute Muſik ihre ganz beſtimmten
Gränzen; ſie vermag, ohne die willkürlichſten Annahmen,
nun und nimmermehr den ſinnlich und ſittlich beſtimmten
Menſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬
ſcheidenden Darſtellung zu bringen; ſie iſt, in ihrer unend¬
lichſten Steigerung, doch immer nur Gefühl; ſie tritt im
Geleite der ſittlichen That, nicht aber als That ſelbſt
ein; ſie kann Gefühle und Stimmungen neben einander
ſtellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung
aus der andern entwickeln; — ihr fehlt der moraliſche
Wille
.

Welche unnachahmliche Kunſt wandte Beethoven in
ſeiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean
unendlichen Sehnens ſein Schiff nach dem Hafen der Er¬
füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck ſeiner
Muſik bis faſt zum moraliſchen Entſchluſſe zu ſteigern,
dennoch aber nicht ihn ſelbſt auszuſprechen; und nach jedem
Anſatze zum Willen fühlen wir uns, ohne ſittlichen Anhalt,
von der Möglichkeit beängſtigt, eben ſo gut, als zum Sieg,
auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; — ja
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[88/0104] als durch Aufgehen der Sehnſucht in einem Gegenſtande. Dieſer Gegenſtand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬ nens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau ſich darſtellender ſein. An einem ſolchen Gegenſtande findet jedoch die abſolute Muſik ihre ganz beſtimmten Gränzen; ſie vermag, ohne die willkürlichſten Annahmen, nun und nimmermehr den ſinnlich und ſittlich beſtimmten Menſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬ ſcheidenden Darſtellung zu bringen; ſie iſt, in ihrer unend¬ lichſten Steigerung, doch immer nur Gefühl; ſie tritt im Geleite der ſittlichen That, nicht aber als That ſelbſt ein; ſie kann Gefühle und Stimmungen neben einander ſtellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung aus der andern entwickeln; — ihr fehlt der moraliſche Wille. Welche unnachahmliche Kunſt wandte Beethoven in ſeiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean unendlichen Sehnens ſein Schiff nach dem Hafen der Er¬ füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck ſeiner Muſik bis faſt zum moraliſchen Entſchluſſe zu ſteigern, dennoch aber nicht ihn ſelbſt auszuſprechen; und nach jedem Anſatze zum Willen fühlen wir uns, ohne ſittlichen Anhalt, von der Möglichkeit beängſtigt, eben ſo gut, als zum Sieg, auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; — ja dieſer Rückfall muß uns faſt nothwendiger als der moraliſch

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/104>, abgerufen am 24.11.2024.