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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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zu sagen, das Knochenmark, dessen sie, im Sehnen
nach Menschwerdung, zu der Flüssigkeit ihres Blutes
bedurfte, und an dem sie sich zu kernigem Fleische
hätte verdichten können. Ein nothwendiges neues,
kräftiges Erfassen des Wortes, um an ihm sich zu
gestalten, gab sich in der protestantischen Kirchen¬
musik kund und drängte bis zum kirchlichen Drama in
der Passionsmusik, in der das Wort nicht mehr
bloßer verschwimmender Gefühlsausdruck war, sondern
zum Handlung zeichnenden Gedanken sich erkräftigte.
In diesen kirchlichen Dramen nöthigte die, immer noch
vorherrschende und Alles nur für sich construirende,
Musik, gleichsam die Dichtkunst, sich ernstlich und
männlich mit ihr zu befassen: die feige Dichtkunst
schien aber wie vor dieser Zumuthung zu erschrecken; es
dünkte ihr angemessen, dem gewaltig anschwellenden Unge¬
heuer der Musik, wie um es zu begütigen, einige zu
erübrigende Bissen von sich zum Fraße hinzuwerfen, nur
aber um, wiederum egoistisch gebietend, in ihrer besonderen
Sphäre, der Literatur, ganz und ungestört sie selbst blei¬
ben zu dürfen. Dieser eigensüchtig feigen Stimmung der
Dichtkunst zur Tonkunst haben wir die naturwidrige Aus¬
geburt des Oratorium's zu verdanken, wie es sich aus
der Kirche endlich in den Conzertsaal verpflanzte. Das
Oratorium will Drama sein, aber genau nur so weit,

zu ſagen, das Knochenmark, deſſen ſie, im Sehnen
nach Menſchwerdung, zu der Flüſſigkeit ihres Blutes
bedurfte, und an dem ſie ſich zu kernigem Fleiſche
hätte verdichten können. Ein nothwendiges neues,
kräftiges Erfaſſen des Wortes, um an ihm ſich zu
geſtalten, gab ſich in der proteſtantiſchen Kirchen¬
muſik kund und drängte bis zum kirchlichen Drama in
der Paſſionsmuſik, in der das Wort nicht mehr
bloßer verſchwimmender Gefühlsausdruck war, ſondern
zum Handlung zeichnenden Gedanken ſich erkräftigte.
In dieſen kirchlichen Dramen nöthigte die, immer noch
vorherrſchende und Alles nur für ſich conſtruirende,
Muſik, gleichſam die Dichtkunſt, ſich ernſtlich und
männlich mit ihr zu befaſſen: die feige Dichtkunſt
ſchien aber wie vor dieſer Zumuthung zu erſchrecken; es
dünkte ihr angemeſſen, dem gewaltig anſchwellenden Unge¬
heuer der Muſik, wie um es zu begütigen, einige zu
erübrigende Biſſen von ſich zum Fraße hinzuwerfen, nur
aber um, wiederum egoiſtiſch gebietend, in ihrer beſonderen
Sphäre, der Literatur, ganz und ungeſtört ſie ſelbſt blei¬
ben zu dürfen. Dieſer eigenſüchtig feigen Stimmung der
Dichtkunſt zur Tonkunſt haben wir die naturwidrige Aus¬
geburt des Oratorium's zu verdanken, wie es ſich aus
der Kirche endlich in den Conzertſaal verpflanzte. Das
Oratorium will Drama ſein, aber genau nur ſo weit,

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[132/0148] zu ſagen, das Knochenmark, deſſen ſie, im Sehnen nach Menſchwerdung, zu der Flüſſigkeit ihres Blutes bedurfte, und an dem ſie ſich zu kernigem Fleiſche hätte verdichten können. Ein nothwendiges neues, kräftiges Erfaſſen des Wortes, um an ihm ſich zu geſtalten, gab ſich in der proteſtantiſchen Kirchen¬ muſik kund und drängte bis zum kirchlichen Drama in der Paſſionsmuſik, in der das Wort nicht mehr bloßer verſchwimmender Gefühlsausdruck war, ſondern zum Handlung zeichnenden Gedanken ſich erkräftigte. In dieſen kirchlichen Dramen nöthigte die, immer noch vorherrſchende und Alles nur für ſich conſtruirende, Muſik, gleichſam die Dichtkunſt, ſich ernſtlich und männlich mit ihr zu befaſſen: die feige Dichtkunſt ſchien aber wie vor dieſer Zumuthung zu erſchrecken; es dünkte ihr angemeſſen, dem gewaltig anſchwellenden Unge¬ heuer der Muſik, wie um es zu begütigen, einige zu erübrigende Biſſen von ſich zum Fraße hinzuwerfen, nur aber um, wiederum egoiſtiſch gebietend, in ihrer beſonderen Sphäre, der Literatur, ganz und ungeſtört ſie ſelbſt blei¬ ben zu dürfen. Dieſer eigenſüchtig feigen Stimmung der Dichtkunſt zur Tonkunſt haben wir die naturwidrige Aus¬ geburt des Oratorium's zu verdanken, wie es ſich aus der Kirche endlich in den Conzertſaal verpflanzte. Das Oratorium will Drama ſein, aber genau nur ſo weit,

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/148>, abgerufen am 28.11.2024.