Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

mit civilisirt hölzerner Ausdruckslosigkeit schüchtern anzu¬
deuten erlaubt, das ist jener grundgütigen Tänzerin
gestattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenster Auf¬
richtigkeit auszusprechen; denn -- ihr Gebahren ist ja nur
Kunst, nicht Wahrheit, und wie sie einmal außer dem
Gesetze erklärt ist, steht sie nun über dem Gesetze: wir
können uns durch sie reizen lassen, ohne ja deshalb im
gesitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, -- wie ja
im Gegensatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur
Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen
Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt
sind. Die Kunst ist frei, -- und die Tanzkunst zieht aus
dieser Freiheit ihren Vortheil; und daran thut sie recht,
wozu wäre sonst die Freiheit da? --

Wie mochte diese edle Kunst so tief fallen, daß sie
in unsrem öffentlichen Kunstleben nur noch als Spitze aller
in sich vereinigten Buhlerkünste sich Geltung zu verschaffen,
ihr Leben zu fristen vermag? Daß sie in den unehren¬
haftesten Fesseln niedrigster Abhängigkeit unrettbar sich
gefangen geben muß? -- Weil alles aus seinem Zusam¬
menhange gerissene, Einzelne, Egoistische, in Wahrheit
unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen
werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmensch, der
bloße Gefühls- der bloße Verstandesmensch, sind zu jeder
Selbstständigkeit als wirklicher Mensch unfähig; die Aus¬

mit civiliſirt hölzerner Ausdrucksloſigkeit ſchüchtern anzu¬
deuten erlaubt, das iſt jener grundgütigen Tänzerin
geſtattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenſter Auf¬
richtigkeit auszuſprechen; denn — ihr Gebahren iſt ja nur
Kunſt, nicht Wahrheit, und wie ſie einmal außer dem
Geſetze erklärt iſt, ſteht ſie nun über dem Geſetze: wir
können uns durch ſie reizen laſſen, ohne ja deshalb im
geſitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, — wie ja
im Gegenſatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur
Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen
Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt
ſind. Die Kunſt iſt frei, — und die Tanzkunſt zieht aus
dieſer Freiheit ihren Vortheil; und daran thut ſie recht,
wozu wäre ſonſt die Freiheit da? —

Wie mochte dieſe edle Kunſt ſo tief fallen, daß ſie
in unſrem öffentlichen Kunſtleben nur noch als Spitze aller
in ſich vereinigten Buhlerkünſte ſich Geltung zu verſchaffen,
ihr Leben zu friſten vermag? Daß ſie in den unehren¬
hafteſten Feſſeln niedrigſter Abhängigkeit unrettbar ſich
gefangen geben muß? — Weil alles aus ſeinem Zuſam¬
menhange geriſſene, Einzelne, Egoiſtiſche, in Wahrheit
unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen
werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmenſch, der
bloße Gefühls- der bloße Verſtandesmenſch, ſind zu jeder
Selbſtſtändigkeit als wirklicher Menſch unfähig; die Aus¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0078" n="62"/>
mit civili&#x017F;irt hölzerner Ausdruckslo&#x017F;igkeit &#x017F;chüchtern anzu¬<lb/>
deuten erlaubt, das i&#x017F;t jener grundgütigen Tänzerin<lb/>
ge&#x017F;tattet auf öffentlicher Bühne mit unumwunden&#x017F;ter Auf¬<lb/>
richtigkeit auszu&#x017F;prechen; denn &#x2014; ihr Gebahren i&#x017F;t ja nur<lb/>
Kun&#x017F;t, nicht Wahrheit, und wie &#x017F;ie einmal <hi rendition="#g">außer</hi> dem<lb/>
Ge&#x017F;etze erklärt i&#x017F;t, &#x017F;teht &#x017F;ie nun <hi rendition="#g">über</hi> dem Ge&#x017F;etze: wir<lb/>
können uns durch &#x017F;ie reizen la&#x017F;&#x017F;en, ohne ja deshalb im<lb/>
ge&#x017F;itteten Leben ihren Reizungen zu folgen, &#x2014; wie ja<lb/>
im Gegen&#x017F;atze hierzu, auch die Religion Reizungen zur<lb/>
Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen<lb/>
Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt<lb/>
&#x017F;ind. Die Kun&#x017F;t i&#x017F;t <hi rendition="#g">frei</hi>, &#x2014; und die Tanzkun&#x017F;t zieht aus<lb/>
die&#x017F;er Freiheit ihren Vortheil; und daran thut &#x017F;ie recht,<lb/>
wozu wäre &#x017F;on&#x017F;t die Freiheit da? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Wie mochte die&#x017F;e edle Kun&#x017F;t &#x017F;o tief fallen, daß &#x017F;ie<lb/>
in un&#x017F;rem öffentlichen Kun&#x017F;tleben nur noch als Spitze aller<lb/>
in &#x017F;ich vereinigten Buhlerkün&#x017F;te &#x017F;ich Geltung zu ver&#x017F;chaffen,<lb/>
ihr Leben zu fri&#x017F;ten vermag? Daß &#x017F;ie in den unehren¬<lb/>
hafte&#x017F;ten Fe&#x017F;&#x017F;eln niedrig&#x017F;ter Abhängigkeit unrettbar &#x017F;ich<lb/>
gefangen geben muß? &#x2014; Weil alles aus &#x017F;einem Zu&#x017F;am¬<lb/>
menhange geri&#x017F;&#x017F;ene, Einzelne, Egoi&#x017F;ti&#x017F;che, in Wahrheit<lb/><hi rendition="#g">unfrei</hi>, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen<lb/>
werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmen&#x017F;ch, der<lb/>
bloße Gefühls- der bloße Ver&#x017F;tandesmen&#x017F;ch, &#x017F;ind zu jeder<lb/>
Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit als wirklicher Men&#x017F;ch unfähig; die Aus¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0078] mit civiliſirt hölzerner Ausdrucksloſigkeit ſchüchtern anzu¬ deuten erlaubt, das iſt jener grundgütigen Tänzerin geſtattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenſter Auf¬ richtigkeit auszuſprechen; denn — ihr Gebahren iſt ja nur Kunſt, nicht Wahrheit, und wie ſie einmal außer dem Geſetze erklärt iſt, ſteht ſie nun über dem Geſetze: wir können uns durch ſie reizen laſſen, ohne ja deshalb im geſitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, — wie ja im Gegenſatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt ſind. Die Kunſt iſt frei, — und die Tanzkunſt zieht aus dieſer Freiheit ihren Vortheil; und daran thut ſie recht, wozu wäre ſonſt die Freiheit da? — Wie mochte dieſe edle Kunſt ſo tief fallen, daß ſie in unſrem öffentlichen Kunſtleben nur noch als Spitze aller in ſich vereinigten Buhlerkünſte ſich Geltung zu verſchaffen, ihr Leben zu friſten vermag? Daß ſie in den unehren¬ hafteſten Feſſeln niedrigſter Abhängigkeit unrettbar ſich gefangen geben muß? — Weil alles aus ſeinem Zuſam¬ menhange geriſſene, Einzelne, Egoiſtiſche, in Wahrheit unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmenſch, der bloße Gefühls- der bloße Verſtandesmenſch, ſind zu jeder Selbſtſtändigkeit als wirklicher Menſch unfähig; die Aus¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/78
Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/78>, abgerufen am 21.11.2024.