Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, -- denn diese ist das So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, — denn dieſe iſt das So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0093" n="77"/> zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, — denn dieſe iſt das<lb/> Werk des Rhythmus. Die unerſchöpflichſte Mannigfaltig¬<lb/> keit jenes Farbenlichtwechſels iſt dagegen der ewig ergiebige<lb/> Quell, aus dem ſie mit maßloſem Selbſtgefallen unauf¬<lb/> hörlich neu ſich darzuſtellen vermag; der Lebenshauch, der<lb/> dieſen raſtloſen — nach unwillkürlicher Willkür ſich wie¬<lb/> derum ſelbſtbedingenden — Wechſel bewegt und beſeelt, iſt<lb/> das Weſen des Tones ſelbſt, der Athem unergründlicher,<lb/> allgewaltiger Herzensſehnſucht. Im Reiche der Harmonie<lb/> iſt daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenſtandloſe,<lb/> ſich ſelbſt verzehrende Gemüthsinbrunſt, unkundig ihres<lb/> Quelles, nur ſie ſelbſt iſt, Verlangen, Sehnen, Stürmen,<lb/> Schmachten — <hi rendition="#g">Erſterben</hi>, d. h. Sterben ohne in einem<lb/> Gegenſtande ſich befriedigt zu haben, alſo Sterben ohne<lb/> zu ſterben, ſomit immer wieder Zurückkehr zu ſich ſelbſt.</p><lb/> <p>So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang<lb/> und Ende; als es in den bodenloſen Grund der Harmonie<lb/> verſank, als es nur noch „Aechzen und Seufzen der Seele“<lb/> war — wie auf der brünſtigſten Höhe der katholiſchen<lb/> Kirchenmuſik, — da ward auch das Wort willkürlich auf<lb/> der Spitze jener harmoniſchen Säulen, der unrhythmiſchen<lb/> Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, und die uner¬<lb/> meßliche harmoniſche Möglichkeit mußte aus ſich nun ſelbſt<lb/> die Geſetze für ihr endliches Erſcheinen geben. Dem Weſen<lb/> der Harmonie entſpricht kein anderes künſtleriſches Ver¬<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [77/0093]
zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, — denn dieſe iſt das
Werk des Rhythmus. Die unerſchöpflichſte Mannigfaltig¬
keit jenes Farbenlichtwechſels iſt dagegen der ewig ergiebige
Quell, aus dem ſie mit maßloſem Selbſtgefallen unauf¬
hörlich neu ſich darzuſtellen vermag; der Lebenshauch, der
dieſen raſtloſen — nach unwillkürlicher Willkür ſich wie¬
derum ſelbſtbedingenden — Wechſel bewegt und beſeelt, iſt
das Weſen des Tones ſelbſt, der Athem unergründlicher,
allgewaltiger Herzensſehnſucht. Im Reiche der Harmonie
iſt daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenſtandloſe,
ſich ſelbſt verzehrende Gemüthsinbrunſt, unkundig ihres
Quelles, nur ſie ſelbſt iſt, Verlangen, Sehnen, Stürmen,
Schmachten — Erſterben, d. h. Sterben ohne in einem
Gegenſtande ſich befriedigt zu haben, alſo Sterben ohne
zu ſterben, ſomit immer wieder Zurückkehr zu ſich ſelbſt.
So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang
und Ende; als es in den bodenloſen Grund der Harmonie
verſank, als es nur noch „Aechzen und Seufzen der Seele“
war — wie auf der brünſtigſten Höhe der katholiſchen
Kirchenmuſik, — da ward auch das Wort willkürlich auf
der Spitze jener harmoniſchen Säulen, der unrhythmiſchen
Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, und die uner¬
meßliche harmoniſche Möglichkeit mußte aus ſich nun ſelbſt
die Geſetze für ihr endliches Erſcheinen geben. Dem Weſen
der Harmonie entſpricht kein anderes künſtleriſches Ver¬
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