Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

Ein Mann stieg aus der Erde. Sein Auge
sprühte Begeisterung, wie Funken die Sonne: die
wilden langen Locken umwallten in regellosem Wir-
bel die hohe gefaltete Stirne und den unbeugsam
männlichen Nacken. Er ergriff die alten Eichen und
wuchtete die Ungeheuer mit Stamm und Kron' und
Wurzel aus der Erde, daß sie, lautdröhnend, mit
entsetzlichem Gekrache, wie vom Himmel geschleu-
derte Giganten, niederstürzten. Dann riß er Fel-
sen aus dem Boden, und warf, wie leichte Steine
sie empor, und thürmte einen auf des andern Gi-
pfel. Dann schwang er sich hinauf, und stand auf
dem himmelragenden Geklippe, daß seine Haare,
von den Winden gewirbelt, wie Schlangen, in
den Lüften flogen. Darauf stieg er nieder und eine
Flamme zündet' er an auf einem Altar am Fuß
des Felsgeklüftes, und betete an die wechsellose Rie-
senmacht des allgebietenden Geschicks und die Grund-
kräfte der lebendigen Natur, die alten Urgötter,
und flehte, Gerechtigkeit walten zu lassen auf Er-
den, und Heil und Fülle zu verleihen dem heißge-
liebten, göttlichen Vaterland. Es war Aeschylos.

Richt weit von ihm quoll nieder eine Flamme,
daß Tempel umher und Myrthen und Blumen von
dem Lichte glänzten. Es war die ewig heilige

10

Ein Mann ſtieg aus der Erde. Sein Auge
ſpruͤhte Begeiſterung, wie Funken die Sonne: die
wilden langen Locken umwallten in regelloſem Wir-
bel die hohe gefaltete Stirne und den unbeugſam
maͤnnlichen Nacken. Er ergriff die alten Eichen und
wuchtete die Ungeheuer mit Stamm und Kron’ und
Wurzel aus der Erde, daß ſie, lautdroͤhnend, mit
entſetzlichem Gekrache, wie vom Himmel geſchleu-
derte Giganten, niederſtuͤrzten. Dann riß er Fel-
ſen aus dem Boden, und warf, wie leichte Steine
ſie empor, und thuͤrmte einen auf des andern Gi-
pfel. Dann ſchwang er ſich hinauf, und ſtand auf
dem himmelragenden Geklippe, daß ſeine Haare,
von den Winden gewirbelt, wie Schlangen, in
den Luͤften flogen. Darauf ſtieg er nieder und eine
Flamme zuͤndet’ er an auf einem Altar am Fuß
des Felsgekluͤftes, und betete an die wechſelloſe Rie-
ſenmacht des allgebietenden Geſchicks und die Grund-
kraͤfte der lebendigen Natur, die alten Urgoͤtter,
und flehte, Gerechtigkeit walten zu laſſen auf Er-
den, und Heil und Fuͤlle zu verleihen dem heißge-
liebten, goͤttlichen Vaterland. Es war Aeſchylos.

Richt weit von ihm quoll nieder eine Flamme,
daß Tempel umher und Myrthen und Blumen von
dem Lichte glaͤnzten. Es war die ewig heilige

10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0155" n="145"/>
            <p>Ein Mann &#x017F;tieg aus der Erde. Sein Auge<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;hte Begei&#x017F;terung, wie Funken die Sonne: die<lb/>
wilden langen Locken umwallten in regello&#x017F;em Wir-<lb/>
bel die hohe gefaltete Stirne und den unbeug&#x017F;am<lb/>
ma&#x0364;nnlichen Nacken. Er ergriff die alten Eichen und<lb/>
wuchtete die Ungeheuer mit Stamm und Kron&#x2019; und<lb/>
Wurzel aus der Erde, daß &#x017F;ie, lautdro&#x0364;hnend, mit<lb/>
ent&#x017F;etzlichem Gekrache, wie vom Himmel ge&#x017F;chleu-<lb/>
derte Giganten, nieder&#x017F;tu&#x0364;rzten. Dann riß er Fel-<lb/>
&#x017F;en aus dem Boden, und warf, wie leichte Steine<lb/>
&#x017F;ie empor, und thu&#x0364;rmte einen auf des andern Gi-<lb/>
pfel. Dann &#x017F;chwang er &#x017F;ich hinauf, und &#x017F;tand auf<lb/>
dem himmelragenden Geklippe, daß &#x017F;eine Haare,<lb/>
von den Winden gewirbelt, wie Schlangen, in<lb/>
den Lu&#x0364;ften flogen. Darauf &#x017F;tieg er nieder und eine<lb/>
Flamme zu&#x0364;ndet&#x2019; er an auf einem Altar am Fuß<lb/>
des Felsgeklu&#x0364;ftes, und betete an die wech&#x017F;ello&#x017F;e Rie-<lb/>
&#x017F;enmacht des allgebietenden Ge&#x017F;chicks und die Grund-<lb/>
kra&#x0364;fte der lebendigen Natur, die alten Urgo&#x0364;tter,<lb/>
und flehte, Gerechtigkeit walten zu la&#x017F;&#x017F;en auf Er-<lb/>
den, und Heil und Fu&#x0364;lle zu verleihen dem heißge-<lb/>
liebten, go&#x0364;ttlichen Vaterland. Es war Ae&#x017F;chylos.</p><lb/>
            <p>Richt weit von ihm quoll nieder eine Flamme,<lb/>
daß Tempel umher und Myrthen und Blumen von<lb/>
dem Lichte gla&#x0364;nzten. Es war die ewig heilige<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">10</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[145/0155] Ein Mann ſtieg aus der Erde. Sein Auge ſpruͤhte Begeiſterung, wie Funken die Sonne: die wilden langen Locken umwallten in regelloſem Wir- bel die hohe gefaltete Stirne und den unbeugſam maͤnnlichen Nacken. Er ergriff die alten Eichen und wuchtete die Ungeheuer mit Stamm und Kron’ und Wurzel aus der Erde, daß ſie, lautdroͤhnend, mit entſetzlichem Gekrache, wie vom Himmel geſchleu- derte Giganten, niederſtuͤrzten. Dann riß er Fel- ſen aus dem Boden, und warf, wie leichte Steine ſie empor, und thuͤrmte einen auf des andern Gi- pfel. Dann ſchwang er ſich hinauf, und ſtand auf dem himmelragenden Geklippe, daß ſeine Haare, von den Winden gewirbelt, wie Schlangen, in den Luͤften flogen. Darauf ſtieg er nieder und eine Flamme zuͤndet’ er an auf einem Altar am Fuß des Felsgekluͤftes, und betete an die wechſelloſe Rie- ſenmacht des allgebietenden Geſchicks und die Grund- kraͤfte der lebendigen Natur, die alten Urgoͤtter, und flehte, Gerechtigkeit walten zu laſſen auf Er- den, und Heil und Fuͤlle zu verleihen dem heißge- liebten, goͤttlichen Vaterland. Es war Aeſchylos. Richt weit von ihm quoll nieder eine Flamme, daß Tempel umher und Myrthen und Blumen von dem Lichte glaͤnzten. Es war die ewig heilige 10

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/155
Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton01_1823/155>, abgerufen am 24.11.2024.