Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1. Leipzig, 1867.todt, und wenn es gestorben sei, ob es wieder auferstehen werde oder nicht. Mir war es um etwas Positives zu thun; und mein Leben schien mir zu kurz, um bei jedem einzelnen Ausspruch, den ich bei einem Schriftsteller, in einer Zeitung angeführt fand, oder der mir von einem Sammler und Mitarbeiter geboten wurde, lange und unfruchtbare Erörterungen obiger Art anzustellen. Wenn ich ein Sprichwort einmal auf der Strasse oder im Umgange hörte, wenn ich es einmal in einer Schrift angeführt fand, wenn es mir als Sprichwort zugesandt wurde, so nahm ich es in meine Sammlung auf. So ganz ohne Prüfung bin ich indess nicht verfahren; ich sah zunächst schon auf den sprichwörtlichen Charakter und suchte womöglich die Quelle anzugeben, aus der geschöpft war, das Land oder den Ort, wo es vernommen worden u. s. w., oder dem es ursprünglich oder hauptsächlich angehört. In welcher Weise dies geschehen ist, geht zur Genüge aus den bisher erschienenen, den ersten Band bildenden Lieferungen, wie aus dem Quellenverzeichniss, auf das ich verweise, hervor. Anstössige Sprichwörter. Ein Werk, das sich Vollständigkeit auf irgendeinem Gebiete zur Aufgabe gestellt hat, kann, ohne seinen eigenen Zwecken entgegenzuarbeiten, nicht ausschliessend verfahren. So sehr sich mein Gefühl gegen einzelnes sträuben mochte, es musste aus sachlichen Gründen aufgenommen werden. Schon Agricola (I, 677) sagte: "Dieweil ich sprichwortter schreibe, so kan ich nicht alle wege seyden spinnen, es muss auch grob mit vntergehen." Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon ist keine ausgewählte Sammlung für Schul- oder volksbildende Zwecke; es hat eine sprachliche und culturgeschichtliche Aufgabe; es will in den Sprichwörtern nicht die Anschauung und Bildung einer gewissen, einzelnen Volksschicht, sondern des ganzen Volks ohne Ausnahme darstellen. So lange es nun in der bürgerlichen Gesellschaft Personen gibt, die für ein anderes Ohr anstössig reden, so lange werden auch sprachwissenschaftliche Schriften von dieser Rede Kenntniss nehmen müssen. Ich habe übrigens über diesen Punkt das Urtheil einer beträchtlichen Anzahl hochgebildeter Männer der verschiedensten Stände und Stellungen eingeholt, die alle ohne Ausnahme für unbedingte Aufnahme alles dessen sind, was sich in irgendeiner Volksschicht als Sprichwort ausweise. Sobald man nach der einen Seite ausscheide, könne man es auch nach der andern; jede Ausscheidung erscheine aber als Fälschung des culturgeschichtlichen Bildes. Was Jakob Grimm in der Vorrede zu seinem Wörterbuch (I, XXX fg.) sagt, gilt auch vom Deutschen Sprichwörter-Lexikon. "Es ist kein Sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches Unternehmen. Selbst in der Bibel gebricht es nicht an Wörtern, die bei der feinen Gesellschaft verpönt sind. Wer an nackten Bildsäulen ein Aergerniss nimmt oder an den nichts auslassenden Wachspräparaten der Anatomie, gehe auch in diesem Saal den misfälligen Wörtern vorüber und betrachte die weit überwiegende Anzahl der andern. Das Wörterbuch - und wieder dasselbe gilt vom Deutschen Sprichwörter-Lexikon - ist nicht da, um Wörter zu verschweigen, sondern um sie vorzubringen; es unterdrückt keine einzige wirklich in der Sprache lebende Form. So wenig man natürliche Dinge, die uns oft beschwerlich fallen, auszutilgen vermöchte, darf man solche Ausdrücke wegschaffen." Für die Wissenschaft gibt es in dieser Beziehung kein unsittliches Moment, als die Fälschung. Sind anstössige Redensarten vorhanden, so verschwinden sie dadurch nicht aus der Gesellschaft, in der sie sich bewegen, indem man sie einem Werke entzieht, welches die Aufgabe hat, das Volk zu charakterisiren und seine Sprachweise treu darzustellen.1 Es ist auch mit anstössigen Wörtern wie Sprichwörtern eine eigene Sache. Die meisten derselben sind in dem Kreise oder der Zeit, der sie angehören, nicht einmal unsittlich und verletzend. Die sogenannte Anstössigkeit ist sehr beziehungsweise; sie hängt von der Bildung des Ohres und dem Charakter der Zeit ab. Viele Wörter, die im 16. Jahrhundert noch der Kirchensprache angehörten und sich zum Theil in der Luther'schen Bibelübersetzung finden, kann man gegenwärtig in keiner guten Gesellschaft anwenden. Es kommt ferner dazu, dass in den Kreisen, wo ein in höhern Schichten anstössig werdendes Wort oder Sprichwort gebraucht wird, damit keine unsittliche Vorstellung verbunden und auch selten erregt wird. Die Ansicht, welche Jakob Grimm, wie oben erwähnt, in seinem Wörterbuch ausgesprochen hat, dass sich wissenschaftliche Werke dergleichen Schranken nicht ziehen dürfen, wenn sie nicht auf ihren Charakter verzichten wollen, ist auch in neuester Zeit erst durch ein Erkenntniss vom preussischen Gerichtshofe bestätigt worden. Gegen die erste Auflage der Preussischen Sprichwörter von Frischbier war Anklage erhoben worden, weil einige Sprichwörter die Sittlichkeit verletzen sollten; aber die Gerichtshöfe beider Instanzen sprachen 1 E. Hektor in seiner Beurtheilung des Spreekwoordenboek von Harrebomee sagt in dieser Beziehung (Frommann, V, 499): "Entschieden Unsittliches hat der Verfasser ausschliessen zu müssen geglaubt, während er doch wiederum manches Zweideutige und Unsaubere (Niederland ist reich daran) aufzunehmen sich gezwungen sah, um der Vollständigkeit nicht zu grossen Abbruch zu thun. Diese Halbheit befriedigt nach keiner Seite hin; und, weil ein unbedingtes Ausschliessen des Unsaubern die Vollständigkeit zur Chimäre machte, so blieb nichts übrig, als alles aufzunehmen. Und welche Bedenken konnten dem bei einem wissenschaftlichen Werke entgegenstehen? Die Wissenschaft darf nicht prüde sein. Ja, wenn das Ungedrucktlassen auch das Ungesprochenlassen herbeiführte!"
todt, und wenn es gestorben sei, ob es wieder auferstehen werde oder nicht. Mir war es um etwas Positives zu thun; und mein Leben schien mir zu kurz, um bei jedem einzelnen Ausspruch, den ich bei einem Schriftsteller, in einer Zeitung angeführt fand, oder der mir von einem Sammler und Mitarbeiter geboten wurde, lange und unfruchtbare Erörterungen obiger Art anzustellen. Wenn ich ein Sprichwort einmal auf der Strasse oder im Umgange hörte, wenn ich es einmal in einer Schrift angeführt fand, wenn es mir als Sprichwort zugesandt wurde, so nahm ich es in meine Sammlung auf. So ganz ohne Prüfung bin ich indess nicht verfahren; ich sah zunächst schon auf den sprichwörtlichen Charakter und suchte womöglich die Quelle anzugeben, aus der geschöpft war, das Land oder den Ort, wo es vernommen worden u. s. w., oder dem es ursprünglich oder hauptsächlich angehört. In welcher Weise dies geschehen ist, geht zur Genüge aus den bisher erschienenen, den ersten Band bildenden Lieferungen, wie aus dem Quellenverzeichniss, auf das ich verweise, hervor. Anstössige Sprichwörter. Ein Werk, das sich Vollständigkeit auf irgendeinem Gebiete zur Aufgabe gestellt hat, kann, ohne seinen eigenen Zwecken entgegenzuarbeiten, nicht ausschliessend verfahren. So sehr sich mein Gefühl gegen einzelnes sträuben mochte, es musste aus sachlichen Gründen aufgenommen werden. Schon Agricola (I, 677) sagte: „Dieweil ich sprichwortter schreibe, so kan ich nicht alle wege seyden spinnen, es muss auch grob mit vntergehen.“ Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon ist keine ausgewählte Sammlung für Schul- oder volksbildende Zwecke; es hat eine sprachliche und culturgeschichtliche Aufgabe; es will in den Sprichwörtern nicht die Anschauung und Bildung einer gewissen, einzelnen Volksschicht, sondern des ganzen Volks ohne Ausnahme darstellen. So lange es nun in der bürgerlichen Gesellschaft Personen gibt, die für ein anderes Ohr anstössig reden, so lange werden auch sprachwissenschaftliche Schriften von dieser Rede Kenntniss nehmen müssen. Ich habe übrigens über diesen Punkt das Urtheil einer beträchtlichen Anzahl hochgebildeter Männer der verschiedensten Stände und Stellungen eingeholt, die alle ohne Ausnahme für unbedingte Aufnahme alles dessen sind, was sich in irgendeiner Volksschicht als Sprichwort ausweise. Sobald man nach der einen Seite ausscheide, könne man es auch nach der andern; jede Ausscheidung erscheine aber als Fälschung des culturgeschichtlichen Bildes. Was Jakob Grimm in der Vorrede zu seinem Wörterbuch (I, XXX fg.) sagt, gilt auch vom Deutschen Sprichwörter-Lexikon. „Es ist kein Sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches Unternehmen. Selbst in der Bibel gebricht es nicht an Wörtern, die bei der feinen Gesellschaft verpönt sind. Wer an nackten Bildsäulen ein Aergerniss nimmt oder an den nichts auslassenden Wachspräparaten der Anatomie, gehe auch in diesem Saal den misfälligen Wörtern vorüber und betrachte die weit überwiegende Anzahl der andern. Das Wörterbuch – und wieder dasselbe gilt vom Deutschen Sprichwörter-Lexikon – ist nicht da, um Wörter zu verschweigen, sondern um sie vorzubringen; es unterdrückt keine einzige wirklich in der Sprache lebende Form. So wenig man natürliche Dinge, die uns oft beschwerlich fallen, auszutilgen vermöchte, darf man solche Ausdrücke wegschaffen.“ Für die Wissenschaft gibt es in dieser Beziehung kein unsittliches Moment, als die Fälschung. Sind anstössige Redensarten vorhanden, so verschwinden sie dadurch nicht aus der Gesellschaft, in der sie sich bewegen, indem man sie einem Werke entzieht, welches die Aufgabe hat, das Volk zu charakterisiren und seine Sprachweise treu darzustellen.1 Es ist auch mit anstössigen Wörtern wie Sprichwörtern eine eigene Sache. Die meisten derselben sind in dem Kreise oder der Zeit, der sie angehören, nicht einmal unsittlich und verletzend. Die sogenannte Anstössigkeit ist sehr beziehungsweise; sie hängt von der Bildung des Ohres und dem Charakter der Zeit ab. Viele Wörter, die im 16. Jahrhundert noch der Kirchensprache angehörten und sich zum Theil in der Luther'schen Bibelübersetzung finden, kann man gegenwärtig in keiner guten Gesellschaft anwenden. Es kommt ferner dazu, dass in den Kreisen, wo ein in höhern Schichten anstössig werdendes Wort oder Sprichwort gebraucht wird, damit keine unsittliche Vorstellung verbunden und auch selten erregt wird. Die Ansicht, welche Jakob Grimm, wie oben erwähnt, in seinem Wörterbuch ausgesprochen hat, dass sich wissenschaftliche Werke dergleichen Schranken nicht ziehen dürfen, wenn sie nicht auf ihren Charakter verzichten wollen, ist auch in neuester Zeit erst durch ein Erkenntniss vom preussischen Gerichtshofe bestätigt worden. Gegen die erste Auflage der Preussischen Sprichwörter von Frischbier war Anklage erhoben worden, weil einige Sprichwörter die Sittlichkeit verletzen sollten; aber die Gerichtshöfe beider Instanzen sprachen 1 E. Hektor in seiner Beurtheilung des Spreekwoordenboek von Harrebomée sagt in dieser Beziehung (Frommann, V, 499): „Entschieden Unsittliches hat der Verfasser ausschliessen zu müssen geglaubt, während er doch wiederum manches Zweideutige und Unsaubere (Niederland ist reich daran) aufzunehmen sich gezwungen sah, um der Vollständigkeit nicht zu grossen Abbruch zu thun. Diese Halbheit befriedigt nach keiner Seite hin; und, weil ein unbedingtes Ausschliessen des Unsaubern die Vollständigkeit zur Chimäre machte, so blieb nichts übrig, als alles aufzunehmen. Und welche Bedenken konnten dem bei einem wissenschaftlichen Werke entgegenstehen? Die Wissenschaft darf nicht prüde sein. Ja, wenn das Ungedrucktlassen auch das Ungesprochenlassen herbeiführte!“
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So ganz ohne Prüfung bin ich indess nicht verfahren; ich sah zunächst schon auf den sprichwörtlichen Charakter und suchte womöglich die Quelle anzugeben, aus der geschöpft war, das Land oder den Ort, wo es vernommen worden u. s. w., oder dem es ursprünglich oder hauptsächlich angehört.</p><lb/> <p>In welcher Weise dies geschehen ist, geht zur Genüge aus den bisher erschienenen, den ersten Band bildenden Lieferungen, wie aus dem <hi rendition="#i">Quellenverzeichniss,</hi> auf das ich verweise, hervor.</p><lb/> <p><hi rendition="#i">Anstössige Sprichwörter</hi>. Ein Werk, das sich Vollständigkeit auf irgendeinem Gebiete zur Aufgabe gestellt hat, kann, ohne seinen eigenen Zwecken entgegenzuarbeiten, nicht ausschliessend verfahren. So sehr sich mein Gefühl gegen einzelnes sträuben mochte, es musste aus sachlichen Gründen aufgenommen werden. 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todt, und wenn es gestorben sei, ob es wieder auferstehen werde oder nicht. Mir war es um etwas Positives zu thun; und mein Leben schien mir zu kurz, um bei jedem einzelnen Ausspruch, den ich bei einem Schriftsteller, in einer Zeitung angeführt fand, oder der mir von einem Sammler und Mitarbeiter geboten wurde, lange und unfruchtbare Erörterungen obiger Art anzustellen. Wenn ich ein Sprichwort einmal auf der Strasse oder im Umgange hörte, wenn ich es einmal in einer Schrift angeführt fand, wenn es mir als Sprichwort zugesandt wurde, so nahm ich es in meine Sammlung auf. So ganz ohne Prüfung bin ich indess nicht verfahren; ich sah zunächst schon auf den sprichwörtlichen Charakter und suchte womöglich die Quelle anzugeben, aus der geschöpft war, das Land oder den Ort, wo es vernommen worden u. s. w., oder dem es ursprünglich oder hauptsächlich angehört.
In welcher Weise dies geschehen ist, geht zur Genüge aus den bisher erschienenen, den ersten Band bildenden Lieferungen, wie aus dem Quellenverzeichniss, auf das ich verweise, hervor.
Anstössige Sprichwörter. Ein Werk, das sich Vollständigkeit auf irgendeinem Gebiete zur Aufgabe gestellt hat, kann, ohne seinen eigenen Zwecken entgegenzuarbeiten, nicht ausschliessend verfahren. So sehr sich mein Gefühl gegen einzelnes sträuben mochte, es musste aus sachlichen Gründen aufgenommen werden. Schon Agricola (I, 677) sagte: „Dieweil ich sprichwortter schreibe, so kan ich nicht alle wege seyden spinnen, es muss auch grob mit vntergehen.“ Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon ist keine ausgewählte Sammlung für Schul- oder volksbildende Zwecke; es hat eine sprachliche und culturgeschichtliche Aufgabe; es will in den Sprichwörtern nicht die Anschauung und Bildung einer gewissen, einzelnen Volksschicht, sondern des ganzen Volks ohne Ausnahme darstellen. So lange es nun in der bürgerlichen Gesellschaft Personen gibt, die für ein anderes Ohr anstössig reden, so lange werden auch sprachwissenschaftliche Schriften von dieser Rede Kenntniss nehmen müssen.
Ich habe übrigens über diesen Punkt das Urtheil einer beträchtlichen Anzahl hochgebildeter Männer der verschiedensten Stände und Stellungen eingeholt, die alle ohne Ausnahme für unbedingte Aufnahme alles dessen sind, was sich in irgendeiner Volksschicht als Sprichwort ausweise. Sobald man nach der einen Seite ausscheide, könne man es auch nach der andern; jede Ausscheidung erscheine aber als Fälschung des culturgeschichtlichen Bildes.
Was Jakob Grimm in der Vorrede zu seinem Wörterbuch (I, XXX fg.) sagt, gilt auch vom Deutschen Sprichwörter-Lexikon. „Es ist kein Sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches Unternehmen. Selbst in der Bibel gebricht es nicht an Wörtern, die bei der feinen Gesellschaft verpönt sind. Wer an nackten Bildsäulen ein Aergerniss nimmt oder an den nichts auslassenden Wachspräparaten der Anatomie, gehe auch in diesem Saal den misfälligen Wörtern vorüber und betrachte die weit überwiegende Anzahl der andern. Das Wörterbuch – und wieder dasselbe gilt vom Deutschen Sprichwörter-Lexikon – ist nicht da, um Wörter zu verschweigen, sondern um sie vorzubringen; es unterdrückt keine einzige wirklich in der Sprache lebende Form. So wenig man natürliche Dinge, die uns oft beschwerlich fallen, auszutilgen vermöchte, darf man solche Ausdrücke wegschaffen.“
Für die Wissenschaft gibt es in dieser Beziehung kein unsittliches Moment, als die Fälschung. Sind anstössige Redensarten vorhanden, so verschwinden sie dadurch nicht aus der Gesellschaft, in der sie sich bewegen, indem man sie einem Werke entzieht, welches die Aufgabe hat, das Volk zu charakterisiren und seine Sprachweise treu darzustellen. 1
Es ist auch mit anstössigen Wörtern wie Sprichwörtern eine eigene Sache. Die meisten derselben sind in dem Kreise oder der Zeit, der sie angehören, nicht einmal unsittlich und verletzend. Die sogenannte Anstössigkeit ist sehr beziehungsweise; sie hängt von der Bildung des Ohres und dem Charakter der Zeit ab. Viele Wörter, die im 16. Jahrhundert noch der Kirchensprache angehörten und sich zum Theil in der Luther'schen Bibelübersetzung finden, kann man gegenwärtig in keiner guten Gesellschaft anwenden. Es kommt ferner dazu, dass in den Kreisen, wo ein in höhern Schichten anstössig werdendes Wort oder Sprichwort gebraucht wird, damit keine unsittliche Vorstellung verbunden und auch selten erregt wird.
Die Ansicht, welche Jakob Grimm, wie oben erwähnt, in seinem Wörterbuch ausgesprochen hat, dass sich wissenschaftliche Werke dergleichen Schranken nicht ziehen dürfen, wenn sie nicht auf ihren Charakter verzichten wollen, ist auch in neuester Zeit erst durch ein Erkenntniss vom preussischen Gerichtshofe bestätigt worden. Gegen die erste Auflage der Preussischen Sprichwörter von Frischbier war Anklage erhoben worden, weil einige Sprichwörter die Sittlichkeit verletzen sollten; aber die Gerichtshöfe beider Instanzen sprachen
1 E. Hektor in seiner Beurtheilung des Spreekwoordenboek von Harrebomée sagt in dieser Beziehung (Frommann, V, 499): „Entschieden Unsittliches hat der Verfasser ausschliessen zu müssen geglaubt, während er doch wiederum manches Zweideutige und Unsaubere (Niederland ist reich daran) aufzunehmen sich gezwungen sah, um der Vollständigkeit nicht zu grossen Abbruch zu thun. Diese Halbheit befriedigt nach keiner Seite hin; und, weil ein unbedingtes Ausschliessen des Unsaubern die Vollständigkeit zur Chimäre machte, so blieb nichts übrig, als alles aufzunehmen. Und welche Bedenken konnten dem bei einem wissenschaftlichen Werke entgegenstehen? Die Wissenschaft darf nicht prüde sein. Ja, wenn das Ungedrucktlassen auch das Ungesprochenlassen herbeiführte!“
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