Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 1. Leipzig, 1867.vielleicht nicht eins befindet, das nicht in den ältesten Schriften der neuhochdeutschen Literatur als solches bezeichnet wird. Es ist wahr, wie ebenfalls bereits erwähnt, ich habe in den Jahren 1831-32 unter dem Titel Scheidemünze neue Sprichwörter herausgegeben, aber ich habe das Volk damit nicht betrogen; denn ich habe auf dem Titel und im Vorwort offen und ehrlich gesagt, wie sie entstanden sind. Aber nach welcher Logik folgt denn nun, dass ich dadurch unfähig geworden bin, vom Jahre 1836 an den deutschen Sprichwörterschatz zu sammeln und, lexikalisch geordnet, herauszugeben? Angenommen, aber nicht zugegeben, meine Ansichten über Sprichwörter wären 1830 irrige gewesen, folgt denn daraus, dass ich sie in dem Zeitraume von einem Vierteljahrhundert nicht berichtigt haben könnte?! Ist es nicht möglich, dass jemand, der sich gegen dreissig Jahre dem Studium und der Bearbeitung eines Gegenstandes hingibt, in diesen Gegenstand eindringen und seine Ansichten läutern kann? Sind ferner die Standpunkte der lexikalischen Bewältigung des gesammten Sprichwörterschatzes und der Bearbeitung einer Glaubens- und Sittenlehre in Sprichwörtern nicht himmelweit verschieden? Und macht der letztere für den erstern unfähig? Was nun die neuen Sprichwörter betrifft, die ich herausgegeben habe, dieses in den Augen des mit Herrn Harrebomee correspondirenden deutschen Kritikers unverzeihlichste aller Verbrechen, so weiss ich so gut wie Herr Harrebomee, dass Sprichwörter am Schreibtisch nicht gemacht werden. Allein das Sprichwort ist eine Form, Gedanken darin niederzulegen, eigene wie fremde, so wie das Sinngedicht, die Fabel und Parabel u. a. Hätte ich die Gedanken statt in Sprichwörterform als Sinngedichte drucken lassen oder hätte ihnen einen andern Titel gegeben, so hätten die gelehrten Hähne a la Harrebomee nicht darüber gekräht. Aber ich sehe nicht ein, auch heute nach mehr als dreissig Jahren nicht, warum ich nicht berechtigt sein soll, das, was die Form eines Sprichworts hat, auch Sprichwort zu nennen. Luther schrieb einst, er wolle nicht tausend Goldgulden nehmen, nicht in Rom gewesen zu sein; ich aber würde es in derselben Weise bedauern, jene neuen Sprichwörter nicht geschrieben zu haben. Ich würde ohne den obigen Angriff nicht davon reden; jetzt glaube ich, es nicht blos mir, sondern dem Gegenstande, dem ich diene, schuldig zu sein; und ich kann es vom Berge aus, nachdem längst ein Vierteljahrhundert dahingegangen ist. Die ruhige Arbeitskraft, die ich jetzt der Sache widme, war damals jugendliche Begeisterung für dieselbe und zwar hauptsächlich für die Form des Sprichworts. Ich studirte geradezu die unendlich verschiedenen Formen, in denen es auftritt, und sprach nun, was ich gelesen oder gehört, in einer dieser Formen, wie sie dem Gedanken zusagten, aus. Man kann über ein Sprichwort viel Seiten schreiben oder lange Reden halten; aber es ist umgekehrt nicht so leicht, den Krystallpunkt langer Rede in die Form eines Sprichworts zu bringen.1 Ich bin durch diese Arbeit in die zahlreichen Formen des Sprichworts eingedrungen und habe sie beherrschen gelernt. Ich war damals noch wenig in der Sprichwörterliteratur bekannt; aber so viel begriff ich schon, dass die Sprichwörter des Lebens nicht auf die Weise entstehen, dass jemand sie am Schreibtisch macht, und sie dem Volke zum Nachsprechen übergibt. Wenn auch einzelne mich als beschränkt genug für eine solche Annahme halten sollten, so begreife ich doch nicht, wie sie glauben können, das Volk werde die ihm gedruckt vorgelegten Sätze nachsprechen, weil sie in der Form von Sprichwörtern erscheinen und darum Sprichwörter genannt sind. Man kann einem Volke Agenden, Steuern und Verfassungen, aber, wie ich glaube, nun und nimmermehr Sprichwörter octroyiren; und die "bevoegd beoordeeler", die dies annehmen, müssen entweder sehr wenig Volkskenntniss besitzen oder eine ganz besondere Art von Volk kennen. Man hat fast allgemein das Deutsche Sprichwörter-Lexikon, wenn in öffentlichen Blättern davon gesprochen wurde, ein nationales Werk genannt; und der Gedanke, dass es ein solches ist, hat mir in dem 1 Dass es wirklich nicht so leicht ist, wie etwa die deutsch-holländischen Dioskuren meinen, möchte ich an einem Beispiel zu zeigen mir erlauben. In einer leipziger Gesellschaft sprachkundiger und sprachsinniger Herren und Damen wurde im Winter 1865 die Aufgabe gestellt, das englische Sprichwort: "Where is a will, there is a way", ohne Umschreibung in möglichst kurzem und kernhaftem Sprichwörterdeutsch wiederzugeben. Eine Dame schlug vor: "Wolle nur mit ganzer Seele, dass zum Ziel der Weg nicht fehle." Ein Herr: "Mit der wahren Energie findet sich das Wo und Wie." Ein anderer: "Wo der Wille stark und fest, leicht ein Weg sich finden lässt." Allein weder diese noch andere Uebersetzungsversuche konnten genügen; und es machte sich schon die Ansicht geltend, so kurz wie im Englischen könne man sich im Deutschen niemals ausdrücken, als eine Dame das englische Sprichwort, wie der Berichterstatter sagt, durch die unübertreffliche Uebersetzung wiedergab: "Willenskraft Wege schafft." (Breslauer Zeitung, 1866, Nr. 18, S. 89.) Stände der deutsche Sprichwörterschatz in jedem Augenblick, wenn man dessen bedarf, zu Gebote, so würde man, wenn überhaupt, doch nur äusserst selten in den Fall kommen, ein fremdes Sprichwort zu übersetzen, da sich in der Regel mehr als ein deutsches dafür vorfinden würde. Auch im obigen Falle war dies durchaus nicht nothwendig; denn vermögen wir den betreffenden Gedanken auch nicht so kurz wie die Engländer auszudrücken, so können wir es doch durch das alte Sprichwort: "Wer will, kann", noch kürzer. Simrock hat dasselbe unter 11628 zwar in der längern Fassung: "Wer nur will, der kann auch." Man wird aber nicht behaupten, dass die bei ihm hinzugekommenen drei Wörter sprichwörtlich nothwendig sind, noch viel weniger, dass das Sprichwort in dieser langen, aus sechs einsilbigen Wörtern bestehenden Form gebraucht werde. Ebenso wenig wird man, weil es dem französischen "Vouloir c'est pouvoir" entspricht, behaupten wollen, dass es deshalb französisch sei. Uebrigens entspräche die Form "Wollen ist Können" deutscher Sprichwörtlichkeit immer noch besser als obige Uebersetzungen, von denen kaum eine in den Volksmund übergehen wird. Da in dem englischen Sprichwort der Gedanke ausgedrückt ist, dass fester Wille jedes Hinderniss zu überwinden weiss, welches sich der Erreichung seines Ziels entgegenstellt, so würde ich es etwa so ausdrücken: "Will' geht über Heck' und Düngerhüll", wo durch nicht nur der Kürze und dem Reime, sondern auch volksthümlicher Anschaulichkeit Rechnung getragen wäre.
vielleicht nicht eins befindet, das nicht in den ältesten Schriften der neuhochdeutschen Literatur als solches bezeichnet wird. Es ist wahr, wie ebenfalls bereits erwähnt, ich habe in den Jahren 1831-32 unter dem Titel Scheidemünze neue Sprichwörter herausgegeben, aber ich habe das Volk damit nicht betrogen; denn ich habe auf dem Titel und im Vorwort offen und ehrlich gesagt, wie sie entstanden sind. Aber nach welcher Logik folgt denn nun, dass ich dadurch unfähig geworden bin, vom Jahre 1836 an den deutschen Sprichwörterschatz zu sammeln und, lexikalisch geordnet, herauszugeben? Angenommen, aber nicht zugegeben, meine Ansichten über Sprichwörter wären 1830 irrige gewesen, folgt denn daraus, dass ich sie in dem Zeitraume von einem Vierteljahrhundert nicht berichtigt haben könnte?! Ist es nicht möglich, dass jemand, der sich gegen dreissig Jahre dem Studium und der Bearbeitung eines Gegenstandes hingibt, in diesen Gegenstand eindringen und seine Ansichten läutern kann? Sind ferner die Standpunkte der lexikalischen Bewältigung des gesammten Sprichwörterschatzes und der Bearbeitung einer Glaubens- und Sittenlehre in Sprichwörtern nicht himmelweit verschieden? Und macht der letztere für den erstern unfähig? Was nun die neuen Sprichwörter betrifft, die ich herausgegeben habe, dieses in den Augen des mit Herrn Harrebomée correspondirenden deutschen Kritikers unverzeihlichste aller Verbrechen, so weiss ich so gut wie Herr Harrebomée, dass Sprichwörter am Schreibtisch nicht gemacht werden. Allein das Sprichwort ist eine Form, Gedanken darin niederzulegen, eigene wie fremde, so wie das Sinngedicht, die Fabel und Parabel u. a. Hätte ich die Gedanken statt in Sprichwörterform als Sinngedichte drucken lassen oder hätte ihnen einen andern Titel gegeben, so hätten die gelehrten Hähne à la Harrebomée nicht darüber gekräht. Aber ich sehe nicht ein, auch heute nach mehr als dreissig Jahren nicht, warum ich nicht berechtigt sein soll, das, was die Form eines Sprichworts hat, auch Sprichwort zu nennen. Luther schrieb einst, er wolle nicht tausend Goldgulden nehmen, nicht in Rom gewesen zu sein; ich aber würde es in derselben Weise bedauern, jene neuen Sprichwörter nicht geschrieben zu haben. Ich würde ohne den obigen Angriff nicht davon reden; jetzt glaube ich, es nicht blos mir, sondern dem Gegenstande, dem ich diene, schuldig zu sein; und ich kann es vom Berge aus, nachdem längst ein Vierteljahrhundert dahingegangen ist. Die ruhige Arbeitskraft, die ich jetzt der Sache widme, war damals jugendliche Begeisterung für dieselbe und zwar hauptsächlich für die Form des Sprichworts. Ich studirte geradezu die unendlich verschiedenen Formen, in denen es auftritt, und sprach nun, was ich gelesen oder gehört, in einer dieser Formen, wie sie dem Gedanken zusagten, aus. Man kann über ein Sprichwort viel Seiten schreiben oder lange Reden halten; aber es ist umgekehrt nicht so leicht, den Krystallpunkt langer Rede in die Form eines Sprichworts zu bringen.1 Ich bin durch diese Arbeit in die zahlreichen Formen des Sprichworts eingedrungen und habe sie beherrschen gelernt. Ich war damals noch wenig in der Sprichwörterliteratur bekannt; aber so viel begriff ich schon, dass die Sprichwörter des Lebens nicht auf die Weise entstehen, dass jemand sie am Schreibtisch macht, und sie dem Volke zum Nachsprechen übergibt. Wenn auch einzelne mich als beschränkt genug für eine solche Annahme halten sollten, so begreife ich doch nicht, wie sie glauben können, das Volk werde die ihm gedruckt vorgelegten Sätze nachsprechen, weil sie in der Form von Sprichwörtern erscheinen und darum Sprichwörter genannt sind. Man kann einem Volke Agenden, Steuern und Verfassungen, aber, wie ich glaube, nun und nimmermehr Sprichwörter octroyiren; und die „bevoegd beoordeeler“, die dies annehmen, müssen entweder sehr wenig Volkskenntniss besitzen oder eine ganz besondere Art von Volk kennen. Man hat fast allgemein das Deutsche Sprichwörter-Lexikon, wenn in öffentlichen Blättern davon gesprochen wurde, ein nationales Werk genannt; und der Gedanke, dass es ein solches ist, hat mir in dem 1 Dass es wirklich nicht so leicht ist, wie etwa die deutsch-holländischen Dioskuren meinen, möchte ich an einem Beispiel zu zeigen mir erlauben. In einer leipziger Gesellschaft sprachkundiger und sprachsinniger Herren und Damen wurde im Winter 1865 die Aufgabe gestellt, das englische Sprichwort: „Where is a will, there is a way“, ohne Umschreibung in möglichst kurzem und kernhaftem Sprichwörterdeutsch wiederzugeben. Eine Dame schlug vor: „Wolle nur mit ganzer Seele, dass zum Ziel der Weg nicht fehle.“ Ein Herr: „Mit der wahren Energie findet sich das Wo und Wie.“ Ein anderer: „Wo der Wille stark und fest, leicht ein Weg sich finden lässt.“ Allein weder diese noch andere Uebersetzungsversuche konnten genügen; und es machte sich schon die Ansicht geltend, so kurz wie im Englischen könne man sich im Deutschen niemals ausdrücken, als eine Dame das englische Sprichwort, wie der Berichterstatter sagt, durch die unübertreffliche Uebersetzung wiedergab: „Willenskraft Wege schafft.“ (Breslauer Zeitung, 1866, Nr. 18, S. 89.) Stände der deutsche Sprichwörterschatz in jedem Augenblick, wenn man dessen bedarf, zu Gebote, so würde man, wenn überhaupt, doch nur äusserst selten in den Fall kommen, ein fremdes Sprichwort zu übersetzen, da sich in der Regel mehr als ein deutsches dafür vorfinden würde. Auch im obigen Falle war dies durchaus nicht nothwendig; denn vermögen wir den betreffenden Gedanken auch nicht so kurz wie die Engländer auszudrücken, so können wir es doch durch das alte Sprichwort: „Wer will, kann“, noch kürzer. Simrock hat dasselbe unter 11628 zwar in der längern Fassung: „Wer nur will, der kann auch.“ Man wird aber nicht behaupten, dass die bei ihm hinzugekommenen drei Wörter sprichwörtlich nothwendig sind, noch viel weniger, dass das Sprichwort in dieser langen, aus sechs einsilbigen Wörtern bestehenden Form gebraucht werde. Ebenso wenig wird man, weil es dem französischen „Vouloir c'est pouvoir“ entspricht, behaupten wollen, dass es deshalb französisch sei. Uebrigens entspräche die Form „Wollen ist Können“ deutscher Sprichwörtlichkeit immer noch besser als obige Uebersetzungen, von denen kaum eine in den Volksmund übergehen wird. Da in dem englischen Sprichwort der Gedanke ausgedrückt ist, dass fester Wille jedes Hinderniss zu überwinden weiss, welches sich der Erreichung seines Ziels entgegenstellt, so würde ich es etwa so ausdrücken: „Will' geht über Heck' und Düngerhüll“, wo durch nicht nur der Kürze und dem Reime, sondern auch volksthümlicher Anschaulichkeit Rechnung getragen wäre.
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Ist es nicht möglich, dass jemand, der sich gegen dreissig Jahre dem Studium und der Bearbeitung eines Gegenstandes hingibt, in diesen Gegenstand eindringen und seine Ansichten läutern kann? Sind ferner die Standpunkte der lexikalischen Bewältigung des gesammten Sprichwörterschatzes und der Bearbeitung einer Glaubens- und Sittenlehre in Sprichwörtern nicht himmelweit verschieden? Und macht der letztere für den erstern unfähig?</p><lb/> <p>Was nun die neuen Sprichwörter betrifft, die ich herausgegeben habe, dieses in den Augen des mit Herrn Harrebomée correspondirenden deutschen Kritikers unverzeihlichste aller Verbrechen, so weiss ich so gut wie Herr Harrebomée, dass Sprichwörter am Schreibtisch nicht gemacht werden. Allein das Sprichwort ist eine Form, Gedanken darin niederzulegen, eigene wie fremde, so wie das Sinngedicht, die Fabel und Parabel u. a. Hätte ich die Gedanken statt in Sprichwörterform als Sinngedichte drucken lassen oder hätte ihnen einen andern Titel gegeben, so hätten die gelehrten Hähne à la Harrebomée nicht darüber gekräht. Aber ich sehe nicht ein, auch heute nach mehr als dreissig Jahren nicht, warum ich nicht berechtigt sein soll, das, was die <hi rendition="#i">Form</hi> eines Sprichworts hat, auch Sprichwort zu <hi rendition="#i">nennen</hi>.</p><lb/> <p>Luther schrieb einst, er wolle nicht tausend Goldgulden nehmen, nicht in Rom gewesen zu sein; ich aber würde es in derselben Weise bedauern, jene neuen Sprichwörter nicht geschrieben zu haben. Ich würde ohne den obigen Angriff nicht davon reden; jetzt glaube ich, es nicht blos mir, sondern dem Gegenstande, dem ich diene, <hi rendition="#i">schuldig zu sein</hi>; und ich kann es vom Berge aus, nachdem längst ein Vierteljahrhundert dahingegangen ist. Die ruhige Arbeitskraft, die ich jetzt der Sache widme, war damals jugendliche Begeisterung für dieselbe und zwar hauptsächlich für die Form des Sprichworts. Ich studirte geradezu die unendlich verschiedenen Formen, in denen es auftritt, und sprach nun, was ich gelesen oder gehört, in einer dieser Formen, wie sie dem Gedanken zusagten, aus. Man kann über ein Sprichwort viel Seiten schreiben oder lange Reden halten; aber es ist umgekehrt nicht so leicht, den Krystallpunkt langer Rede in die Form eines Sprichworts zu bringen.<note place="foot" n="1">Dass es wirklich nicht so leicht ist, wie etwa die deutsch-holländischen Dioskuren meinen, möchte ich an einem Beispiel zu zeigen mir erlauben. In einer leipziger Gesellschaft sprachkundiger und sprachsinniger Herren und Damen wurde im Winter 1865 die Aufgabe gestellt, das englische Sprichwort: „Where is a will, there is a way“, ohne Umschreibung in möglichst kurzem und kernhaftem Sprichwörterdeutsch wiederzugeben. Eine Dame schlug vor: „Wolle nur mit ganzer Seele, dass zum Ziel der Weg nicht fehle.“ Ein Herr: „Mit der wahren Energie findet sich das Wo und Wie.“ Ein anderer: „Wo der Wille stark und fest, leicht ein Weg sich finden lässt.“ Allein weder diese noch andere Uebersetzungsversuche konnten genügen; und es machte sich schon die Ansicht geltend, so kurz wie im Englischen könne man sich im Deutschen niemals ausdrücken, als eine Dame das englische Sprichwort, wie der Berichterstatter sagt, durch die unübertreffliche Uebersetzung wiedergab: „Willenskraft Wege schafft.“ (<hi rendition="#i">Breslauer Zeitung,</hi> 1866, Nr. 18, S. 89.) Stände der deutsche Sprichwörterschatz in jedem Augenblick, wenn man dessen bedarf, zu Gebote, so würde man, wenn überhaupt, doch nur äusserst selten in den Fall kommen, ein fremdes Sprichwort zu übersetzen, da sich in der Regel mehr als ein deutsches dafür vorfinden würde. Auch im obigen Falle war dies durchaus nicht nothwendig; denn vermögen wir den betreffenden Gedanken auch nicht so kurz wie die Engländer auszudrücken, so können wir es doch durch das alte Sprichwort: „Wer will, kann“, noch kürzer. <hi rendition="#i">Simrock</hi> hat dasselbe unter 11628 zwar in der längern Fassung: „Wer nur will, der kann auch.“ Man wird aber nicht behaupten, dass die bei ihm hinzugekommenen drei Wörter sprichwörtlich nothwendig sind, noch viel weniger, dass das Sprichwort in dieser langen, aus sechs einsilbigen Wörtern bestehenden Form gebraucht werde. Ebenso wenig wird man, weil es dem französischen „Vouloir c'est pouvoir“ entspricht, behaupten wollen, dass es deshalb französisch sei. Uebrigens entspräche die Form „Wollen ist Können“ deutscher Sprichwörtlichkeit immer noch besser als obige Uebersetzungen, von denen kaum eine in den Volksmund übergehen wird. Da in dem englischen Sprichwort der Gedanke ausgedrückt ist, dass fester Wille jedes Hinderniss zu überwinden weiss, welches sich der Erreichung seines Ziels entgegenstellt, so würde ich es etwa so ausdrücken: „Will' geht über Heck' und Düngerhüll“, wo durch nicht nur der Kürze und dem Reime, sondern auch volksthümlicher Anschaulichkeit Rechnung getragen wäre.</note> Ich bin durch diese Arbeit in die zahlreichen Formen des Sprichworts eingedrungen und habe sie beherrschen gelernt.</p><lb/> <p>Ich war damals noch wenig in der Sprichwörterliteratur bekannt; aber so viel begriff ich schon, dass die Sprichwörter des Lebens nicht auf die Weise entstehen, dass jemand sie am Schreibtisch macht, und sie dem Volke zum Nachsprechen übergibt. 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vielleicht nicht eins befindet, das nicht in den ältesten Schriften der neuhochdeutschen Literatur als solches bezeichnet wird.
Es ist wahr, wie ebenfalls bereits erwähnt, ich habe in den Jahren 1831-32 unter dem Titel Scheidemünze neue Sprichwörter herausgegeben, aber ich habe das Volk damit nicht betrogen; denn ich habe auf dem Titel und im Vorwort offen und ehrlich gesagt, wie sie entstanden sind. Aber nach welcher Logik folgt denn nun, dass ich dadurch unfähig geworden bin, vom Jahre 1836 an den deutschen Sprichwörterschatz zu sammeln und, lexikalisch geordnet, herauszugeben? Angenommen, aber nicht zugegeben, meine Ansichten über Sprichwörter wären 1830 irrige gewesen, folgt denn daraus, dass ich sie in dem Zeitraume von einem Vierteljahrhundert nicht berichtigt haben könnte?! Ist es nicht möglich, dass jemand, der sich gegen dreissig Jahre dem Studium und der Bearbeitung eines Gegenstandes hingibt, in diesen Gegenstand eindringen und seine Ansichten läutern kann? Sind ferner die Standpunkte der lexikalischen Bewältigung des gesammten Sprichwörterschatzes und der Bearbeitung einer Glaubens- und Sittenlehre in Sprichwörtern nicht himmelweit verschieden? Und macht der letztere für den erstern unfähig?
Was nun die neuen Sprichwörter betrifft, die ich herausgegeben habe, dieses in den Augen des mit Herrn Harrebomée correspondirenden deutschen Kritikers unverzeihlichste aller Verbrechen, so weiss ich so gut wie Herr Harrebomée, dass Sprichwörter am Schreibtisch nicht gemacht werden. Allein das Sprichwort ist eine Form, Gedanken darin niederzulegen, eigene wie fremde, so wie das Sinngedicht, die Fabel und Parabel u. a. Hätte ich die Gedanken statt in Sprichwörterform als Sinngedichte drucken lassen oder hätte ihnen einen andern Titel gegeben, so hätten die gelehrten Hähne à la Harrebomée nicht darüber gekräht. Aber ich sehe nicht ein, auch heute nach mehr als dreissig Jahren nicht, warum ich nicht berechtigt sein soll, das, was die Form eines Sprichworts hat, auch Sprichwort zu nennen.
Luther schrieb einst, er wolle nicht tausend Goldgulden nehmen, nicht in Rom gewesen zu sein; ich aber würde es in derselben Weise bedauern, jene neuen Sprichwörter nicht geschrieben zu haben. Ich würde ohne den obigen Angriff nicht davon reden; jetzt glaube ich, es nicht blos mir, sondern dem Gegenstande, dem ich diene, schuldig zu sein; und ich kann es vom Berge aus, nachdem längst ein Vierteljahrhundert dahingegangen ist. Die ruhige Arbeitskraft, die ich jetzt der Sache widme, war damals jugendliche Begeisterung für dieselbe und zwar hauptsächlich für die Form des Sprichworts. Ich studirte geradezu die unendlich verschiedenen Formen, in denen es auftritt, und sprach nun, was ich gelesen oder gehört, in einer dieser Formen, wie sie dem Gedanken zusagten, aus. Man kann über ein Sprichwort viel Seiten schreiben oder lange Reden halten; aber es ist umgekehrt nicht so leicht, den Krystallpunkt langer Rede in die Form eines Sprichworts zu bringen. 1 Ich bin durch diese Arbeit in die zahlreichen Formen des Sprichworts eingedrungen und habe sie beherrschen gelernt.
Ich war damals noch wenig in der Sprichwörterliteratur bekannt; aber so viel begriff ich schon, dass die Sprichwörter des Lebens nicht auf die Weise entstehen, dass jemand sie am Schreibtisch macht, und sie dem Volke zum Nachsprechen übergibt. Wenn auch einzelne mich als beschränkt genug für eine solche Annahme halten sollten, so begreife ich doch nicht, wie sie glauben können, das Volk werde die ihm gedruckt vorgelegten Sätze nachsprechen, weil sie in der Form von Sprichwörtern erscheinen und darum Sprichwörter genannt sind. Man kann einem Volke Agenden, Steuern und Verfassungen, aber, wie ich glaube, nun und nimmermehr Sprichwörter octroyiren; und die „bevoegd beoordeeler“, die dies annehmen, müssen entweder sehr wenig Volkskenntniss besitzen oder eine ganz besondere Art von Volk kennen.
Man hat fast allgemein das Deutsche Sprichwörter-Lexikon, wenn in öffentlichen Blättern davon gesprochen wurde, ein nationales Werk genannt; und der Gedanke, dass es ein solches ist, hat mir in dem
1 Dass es wirklich nicht so leicht ist, wie etwa die deutsch-holländischen Dioskuren meinen, möchte ich an einem Beispiel zu zeigen mir erlauben. In einer leipziger Gesellschaft sprachkundiger und sprachsinniger Herren und Damen wurde im Winter 1865 die Aufgabe gestellt, das englische Sprichwort: „Where is a will, there is a way“, ohne Umschreibung in möglichst kurzem und kernhaftem Sprichwörterdeutsch wiederzugeben. Eine Dame schlug vor: „Wolle nur mit ganzer Seele, dass zum Ziel der Weg nicht fehle.“ Ein Herr: „Mit der wahren Energie findet sich das Wo und Wie.“ Ein anderer: „Wo der Wille stark und fest, leicht ein Weg sich finden lässt.“ Allein weder diese noch andere Uebersetzungsversuche konnten genügen; und es machte sich schon die Ansicht geltend, so kurz wie im Englischen könne man sich im Deutschen niemals ausdrücken, als eine Dame das englische Sprichwort, wie der Berichterstatter sagt, durch die unübertreffliche Uebersetzung wiedergab: „Willenskraft Wege schafft.“ (Breslauer Zeitung, 1866, Nr. 18, S. 89.) Stände der deutsche Sprichwörterschatz in jedem Augenblick, wenn man dessen bedarf, zu Gebote, so würde man, wenn überhaupt, doch nur äusserst selten in den Fall kommen, ein fremdes Sprichwort zu übersetzen, da sich in der Regel mehr als ein deutsches dafür vorfinden würde. Auch im obigen Falle war dies durchaus nicht nothwendig; denn vermögen wir den betreffenden Gedanken auch nicht so kurz wie die Engländer auszudrücken, so können wir es doch durch das alte Sprichwort: „Wer will, kann“, noch kürzer. Simrock hat dasselbe unter 11628 zwar in der längern Fassung: „Wer nur will, der kann auch.“ Man wird aber nicht behaupten, dass die bei ihm hinzugekommenen drei Wörter sprichwörtlich nothwendig sind, noch viel weniger, dass das Sprichwort in dieser langen, aus sechs einsilbigen Wörtern bestehenden Form gebraucht werde. Ebenso wenig wird man, weil es dem französischen „Vouloir c'est pouvoir“ entspricht, behaupten wollen, dass es deshalb französisch sei. Uebrigens entspräche die Form „Wollen ist Können“ deutscher Sprichwörtlichkeit immer noch besser als obige Uebersetzungen, von denen kaum eine in den Volksmund übergehen wird. Da in dem englischen Sprichwort der Gedanke ausgedrückt ist, dass fester Wille jedes Hinderniss zu überwinden weiss, welches sich der Erreichung seines Ziels entgegenstellt, so würde ich es etwa so ausdrücken: „Will' geht über Heck' und Düngerhüll“, wo durch nicht nur der Kürze und dem Reime, sondern auch volksthümlicher Anschaulichkeit Rechnung getragen wäre.
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