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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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bist das Gegentheil. -- Wer weiß wie du sein wirst, wenn sich
die Andern entwickelt haben.
Wendla. Wer weiß -- vielleicht werde ich nicht mehr sein.
Frau Bergmann. Kind, Kind, wie kommst du auf die
Gedanken!
Wendla. Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
Frau Bergmann (sie küssend). Mein einziges Herzblatt!
Wendla. Sie kommen mir so des Abends, wenn ich nicht
einschlafe. Mir ist gar nicht traurig, und ich weiß, daß ich dann
um so besser schlafe. -- Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu
sinnen?
Frau Bergmann. -- Geh' denn und häng' das Bußgewand
in den Schrank! Zieh' in Gottes Namen dein Prinzeßkleidchen
wieder an! -- Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants
unten ansetzen.
Wendla (das Kleid in den Schrank hängend). Nein, da möcht'
ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein ...!
Frau Bergmann. Wenn du nur nicht zu kalt hast! --
Das Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber ...
Wendla. Jetzt, wo der Sommer kommt? -- O Mutter,
in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphteritis!
Wer wird so kleinmüthig sein. In meinen Jahren friert man
noch nicht -- am wenigsten an die Beine. Wär's etwa besser,
wenn ich zu heiß hätte, Mutter? -- Dank' es dem lieben Gott,
wenn sich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Aermel wegstutzt
und dir so zwischen Licht Abends ohne Schuhe und Strümpfe
entgegentritt! -- Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich
darunter wie eine Elfenkönigin. ... Nicht schelten, Mütterchen!
Es sieht's dann ja niemand mehr.

biſt das Gegentheil. — Wer weiß wie du ſein wirſt, wenn ſich
die Andern entwickelt haben.
Wendla. Wer weiß — vielleicht werde ich nicht mehr ſein.
Frau Bergmann. Kind, Kind, wie kommſt du auf die
Gedanken!
Wendla. Nicht, liebe Mutter; nicht traurig ſein!
Frau Bergmann (ſie küſſend). Mein einziges Herzblatt!
Wendla. Sie kommen mir ſo des Abends, wenn ich nicht
einſchlafe. Mir iſt gar nicht traurig, und ich weiß, daß ich dann
um ſo beſſer ſchlafe. — Iſt es ſündhaft, Mutter, über derlei zu
ſinnen?
Frau Bergmann. — Geh' denn und häng' das Bußgewand
in den Schrank! Zieh' in Gottes Namen dein Prinzeßkleidchen
wieder an! — Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants
unten anſetzen.
Wendla (das Kleid in den Schrank hängend). Nein, da möcht'
ich ſchon lieber gleich vollends zwanzig ſein …!
Frau Bergmann. Wenn du nur nicht zu kalt haſt! —
Das Kleidchen war dir ja ſeinerzeit reichlich lang; aber …
Wendla. Jetzt, wo der Sommer kommt? — O Mutter,
in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphteritis!
Wer wird ſo kleinmüthig ſein. In meinen Jahren friert man
noch nicht — am wenigſten an die Beine. Wär's etwa beſſer,
wenn ich zu heiß hätte, Mutter? — Dank' es dem lieben Gott,
wenn ſich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Aermel wegſtutzt
und dir ſo zwiſchen Licht Abends ohne Schuhe und Strümpfe
entgegentritt! — Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich
darunter wie eine Elfenkönigin. ... Nicht ſchelten, Mütterchen!
Es ſieht's dann ja niemand mehr.

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[2/0018] biſt das Gegentheil. — Wer weiß wie du ſein wirſt, wenn ſich die Andern entwickelt haben. Wendla. Wer weiß — vielleicht werde ich nicht mehr ſein. Frau Bergmann. Kind, Kind, wie kommſt du auf die Gedanken! Wendla. Nicht, liebe Mutter; nicht traurig ſein! Frau Bergmann (ſie küſſend). Mein einziges Herzblatt! Wendla. Sie kommen mir ſo des Abends, wenn ich nicht einſchlafe. Mir iſt gar nicht traurig, und ich weiß, daß ich dann um ſo beſſer ſchlafe. — Iſt es ſündhaft, Mutter, über derlei zu ſinnen? Frau Bergmann. — Geh' denn und häng' das Bußgewand in den Schrank! Zieh' in Gottes Namen dein Prinzeßkleidchen wieder an! — Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten anſetzen. Wendla (das Kleid in den Schrank hängend). Nein, da möcht' ich ſchon lieber gleich vollends zwanzig ſein …! Frau Bergmann. Wenn du nur nicht zu kalt haſt! — Das Kleidchen war dir ja ſeinerzeit reichlich lang; aber … Wendla. Jetzt, wo der Sommer kommt? — O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphteritis! Wer wird ſo kleinmüthig ſein. In meinen Jahren friert man noch nicht — am wenigſten an die Beine. Wär's etwa beſſer, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? — Dank' es dem lieben Gott, wenn ſich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Aermel wegſtutzt und dir ſo zwiſchen Licht Abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! — Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin. ... Nicht ſchelten, Mütterchen! Es ſieht's dann ja niemand mehr.

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/18>, abgerufen am 21.11.2024.