Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.
mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die decolletirte Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuenswürdiges dabei zu denken, und -- ich schwöre dir, Melchior -- ich weiß nicht was. Melchior. Ich sage dir alles. -- Ich habe es theils aus Büchern, theils aus Illustrationen, theils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirst überrascht sein; ich wurde seinerzeit Atheist. Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren. Moritz. Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte -- nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! -- Was soll mir ein Conversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet. Melchior. -- Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen? Moritz. Nein! -- -- Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünf- zehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz -- ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein. Melchior. Komm doch mit auf mein Zimmer. In drei- viertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich corrigire dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade und wir plaudern gemüthlich über die Fortpflanzung. Moritz. Ich kann nicht. -- Ich kann nicht gemüthlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen
mich auch, als fünfjähriges Kind ſchon befangen worden zu ſein, wenn einer die decolletirte Coeurdame aufſchlug. Dieſes Gefühl hat ſich verloren. Indeſſen kann ich heute kaum mehr mit irgend einem Mädchen ſprechen, ohne etwas Verabſcheuenswürdiges dabei zu denken, und — ich ſchwöre dir, Melchior — ich weiß nicht was. Melchior. Ich ſage dir alles. — Ich habe es theils aus Büchern, theils aus Illuſtrationen, theils aus Beobachtungen in der Natur. Du wirſt überraſcht ſein; ich wurde ſeinerzeit Atheiſt. Ich habe es auch Georg Zirſchnitz geſagt! Georg Zirſchnitz wollte es Hänschen Rilow ſagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind ſchon alles von ſeiner Gouvernante erfahren. Moritz. Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte — nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige ſchlichte Erklärung. O dieſes Schamgefühl! — Was ſoll mir ein Converſationslexikon, das auf die nächſtliegende Lebensfrage nicht antwortet. Melchior. — Haſt du ſchon einmal zwei Hunde über die Straße laufen ſehen? Moritz. Nein! — — Sag mir heute lieber noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünf- zehnten vor mir. Dazu die ſechzig Verſe Homer, die ſieben Gleichungen, der lateiniſche Aufſatz — ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich ſtumpfſinnig wie ein Ochſe ſein. Melchior. Komm doch mit auf mein Zimmer. In drei- viertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufſätze. Ich corrigire dir einige harmloſe Schnitzer hinein, ſo iſt die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade und wir plaudern gemüthlich über die Fortpflanzung. Moritz. Ich kann nicht. — Ich kann nicht gemüthlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#MOR"> <p><pb facs="#f0025" n="9"/> mich auch, als fünfjähriges Kind ſchon befangen worden zu ſein,<lb/> wenn einer die decolletirte Coeurdame aufſchlug. Dieſes Gefühl<lb/> hat ſich verloren. Indeſſen kann ich heute kaum mehr mit irgend<lb/> einem Mädchen ſprechen, ohne etwas Verabſcheuenswürdiges dabei<lb/> zu denken, und — ich ſchwöre dir, Melchior — ich weiß nicht <hi rendition="#g">was</hi>.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Ich ſage dir alles. — Ich habe es theils aus<lb/> Büchern, theils aus Illuſtrationen, theils aus Beobachtungen in<lb/> der Natur. Du wirſt überraſcht ſein; ich wurde ſeinerzeit Atheiſt.<lb/> Ich habe es auch Georg Zirſchnitz geſagt! Georg Zirſchnitz wollte<lb/> es Hänschen Rilow ſagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind<lb/> ſchon alles von ſeiner Gouvernante erfahren.</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Ich habe den <hi rendition="#g">Kleinen Meyer</hi> von A bis Z<lb/> durchgenommen. Worte — nichts als Worte und Worte! Nicht<lb/> eine einzige ſchlichte Erklärung. O dieſes Schamgefühl! — Was<lb/> ſoll mir ein Converſationslexikon, das auf die nächſtliegende<lb/> Lebensfrage nicht antwortet.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>— Haſt du ſchon einmal zwei Hunde über<lb/> die Straße laufen ſehen?</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Nein! — — Sag mir heute lieber noch nichts,<lb/> Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünf-<lb/> zehnten vor mir. Dazu die ſechzig Verſe Homer, die ſieben<lb/> Gleichungen, der lateiniſche Aufſatz — ich würde morgen wieder<lb/> überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich<lb/> ſtumpfſinnig wie ein Ochſe ſein.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Komm doch mit auf mein Zimmer. In drei-<lb/> viertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und <hi rendition="#g">zwei</hi><lb/> Aufſätze. Ich corrigire dir einige harmloſe Schnitzer hinein, ſo<lb/> iſt die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade<lb/> und wir plaudern gemüthlich über die Fortpflanzung.</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Ich kann nicht. — Ich kann nicht gemüthlich<lb/> über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0025]
mich auch, als fünfjähriges Kind ſchon befangen worden zu ſein,
wenn einer die decolletirte Coeurdame aufſchlug. Dieſes Gefühl
hat ſich verloren. Indeſſen kann ich heute kaum mehr mit irgend
einem Mädchen ſprechen, ohne etwas Verabſcheuenswürdiges dabei
zu denken, und — ich ſchwöre dir, Melchior — ich weiß nicht was.
Melchior. Ich ſage dir alles. — Ich habe es theils aus
Büchern, theils aus Illuſtrationen, theils aus Beobachtungen in
der Natur. Du wirſt überraſcht ſein; ich wurde ſeinerzeit Atheiſt.
Ich habe es auch Georg Zirſchnitz geſagt! Georg Zirſchnitz wollte
es Hänschen Rilow ſagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind
ſchon alles von ſeiner Gouvernante erfahren.
Moritz. Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z
durchgenommen. Worte — nichts als Worte und Worte! Nicht
eine einzige ſchlichte Erklärung. O dieſes Schamgefühl! — Was
ſoll mir ein Converſationslexikon, das auf die nächſtliegende
Lebensfrage nicht antwortet.
Melchior. — Haſt du ſchon einmal zwei Hunde über
die Straße laufen ſehen?
Moritz. Nein! — — Sag mir heute lieber noch nichts,
Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünf-
zehnten vor mir. Dazu die ſechzig Verſe Homer, die ſieben
Gleichungen, der lateiniſche Aufſatz — ich würde morgen wieder
überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich
ſtumpfſinnig wie ein Ochſe ſein.
Melchior. Komm doch mit auf mein Zimmer. In drei-
viertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei
Aufſätze. Ich corrigire dir einige harmloſe Schnitzer hinein, ſo
iſt die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade
und wir plaudern gemüthlich über die Fortpflanzung.
Moritz. Ich kann nicht. — Ich kann nicht gemüthlich
über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen
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