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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Frau Gabor. Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn
nicht wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet sich
nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den Zwang; das ent-
setzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! -- Und sehe ich ihn
wieder -- Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz -- sein helles
Lachen -- alles, alles -- seine kindliche Entschlossenheit, muthig
zu kämpfen für Gut und Recht -- o dieser Morgenhimmel, wie
ich ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes
Gut. .... Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit!
Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du willst! Ich trage die
Schuld. -- Aber laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.
Herr Gabor. Er hat sich vergangen!
Frau Gabor. Er hat sich nicht vergangen!
Herr Gabor. Er hat sich vergangen! -- -- -- Ich
hätte alles darum gegeben, es deiner grenzenlosen Liebe ersparen
zu dürfen. -- -- Heute Morgen kommt eine Frau zu mir, ver-
geistert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit diesem Brief in der
Hand -- einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus
dummer Neugierde, sagt sie, habe sie ihn erbrochen; das Mädchen
war nicht zu Haus. -- In dem Briefe erklärt Melchior dem
fünfzehnjährigen Kind, daß ihm seine Handlungsweise keine Ruhe
lasse, er habe sich an ihr versündigt etc. etc., werde indessen natürlich
für alles einstehen. Sie möge sich nicht grämen, auch wenn sie
Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege Hülfe zu schaffen;
seine Relegation erleichtere ihm das. Der einmalige Fehltritt
könne noch zu ihrem Glücke führen -- und was des unsinnigen
Gewäsches mehr ist.
Frau Gabor. Unmöglich!!
Herr Gabor. Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug
vor. Man sucht sich seine stadtbekannte Relegation nutzbar zu
machen. Ich habe mit dem Jungen noch nicht gesprochen --
aber sieh' bitte die Hand! Sieh' die Schreibweise!
Wedekind, Frühlings-Erwachen. 5
Frau Gabor. Ich ſehe ihn nicht wieder; ich ſehe ihn
nicht wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet ſich
nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den Zwang; das ent-
ſetzlichſte Beiſpiel ſchwebt ihm vor Augen! — Und ſehe ich ihn
wieder — Gott, Gott, dieſes frühlingsfrohe Herz — ſein helles
Lachen — alles, alles — ſeine kindliche Entſchloſſenheit, muthig
zu kämpfen für Gut und Recht — o dieſer Morgenhimmel, wie
ich ihn licht und rein in ſeiner Seele gehegt als mein höchſtes
Gut. .... Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne ſchreit!
Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du willſt! Ich trage die
Schuld. — Aber laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.
Herr Gabor. Er hat ſich vergangen!
Frau Gabor. Er hat ſich nicht vergangen!
Herr Gabor. Er hat ſich vergangen! — — — Ich
hätte alles darum gegeben, es deiner grenzenloſen Liebe erſparen
zu dürfen. — — Heute Morgen kommt eine Frau zu mir, ver-
geiſtert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit dieſem Brief in der
Hand — einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus
dummer Neugierde, ſagt ſie, habe ſie ihn erbrochen; das Mädchen
war nicht zu Haus. — In dem Briefe erklärt Melchior dem
fünfzehnjährigen Kind, daß ihm ſeine Handlungsweiſe keine Ruhe
laſſe, er habe ſich an ihr verſündigt ꝛc. ꝛc., werde indeſſen natürlich
für alles einſtehen. Sie möge ſich nicht grämen, auch wenn ſie
Folgen ſpüre. Er ſei bereits auf dem Wege Hülfe zu ſchaffen;
ſeine Relegation erleichtere ihm das. Der einmalige Fehltritt
könne noch zu ihrem Glücke führen — und was des unſinnigen
Gewäſches mehr iſt.
Frau Gabor. Unmöglich!!
Herr Gabor. Der Brief iſt gefälſcht. Es liegt Betrug
vor. Man ſucht ſich ſeine ſtadtbekannte Relegation nutzbar zu
machen. Ich habe mit dem Jungen noch nicht geſprochen —
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Wedekind, Frühlings-Erwachen. 5
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[65/0081] Frau Gabor. Ich ſehe ihn nicht wieder; ich ſehe ihn nicht wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet ſich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den Zwang; das ent- ſetzlichſte Beiſpiel ſchwebt ihm vor Augen! — Und ſehe ich ihn wieder — Gott, Gott, dieſes frühlingsfrohe Herz — ſein helles Lachen — alles, alles — ſeine kindliche Entſchloſſenheit, muthig zu kämpfen für Gut und Recht — o dieſer Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in ſeiner Seele gehegt als mein höchſtes Gut. .... Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne ſchreit! Halte dich an mich! Verfahre mit mir wie du willſt! Ich trage die Schuld. — Aber laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg. Herr Gabor. Er hat ſich vergangen! Frau Gabor. Er hat ſich nicht vergangen! Herr Gabor. Er hat ſich vergangen! — — — Ich hätte alles darum gegeben, es deiner grenzenloſen Liebe erſparen zu dürfen. — — Heute Morgen kommt eine Frau zu mir, ver- geiſtert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit dieſem Brief in der Hand — einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus dummer Neugierde, ſagt ſie, habe ſie ihn erbrochen; das Mädchen war nicht zu Haus. — In dem Briefe erklärt Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß ihm ſeine Handlungsweiſe keine Ruhe laſſe, er habe ſich an ihr verſündigt ꝛc. ꝛc., werde indeſſen natürlich für alles einſtehen. Sie möge ſich nicht grämen, auch wenn ſie Folgen ſpüre. Er ſei bereits auf dem Wege Hülfe zu ſchaffen; ſeine Relegation erleichtere ihm das. Der einmalige Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen — und was des unſinnigen Gewäſches mehr iſt. Frau Gabor. Unmöglich!! Herr Gabor. Der Brief iſt gefälſcht. Es liegt Betrug vor. Man ſucht ſich ſeine ſtadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit dem Jungen noch nicht geſprochen — aber ſieh' bitte die Hand! Sieh' die Schreibweiſe! Wedekind, Frühlings-Erwachen. 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/81>, abgerufen am 09.11.2024.