Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891. Frau Gabor. Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück! Herr Gabor. Das fürchte ich! Frau Gabor. Nein nein -- nie und nimmer! Herr Gabor. Um so besser wird es für uns sein. -- Die Frau fragt mich händeringend, was sie thun solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige Tochter nicht auf Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie mir glücklicherweise da- gelassen. -- Schicken wir Melchior nun auf ein anderes Gym- nasium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall -- neue Relegation -- sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade daran. -- Sag' mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem Jungen?! Frau Gabor. -- In die Correctionsanstalt -- Herr Gabor. In die ...? Frau Gabor. ... Correctionsanstalt! Herr Gabor. Er findet dort in erster Linie, was ihm zu Hause ungerechter Weise vorenthalten wurde; eherne Disciplin, Grundsätze, und einen moralischen Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu fügen hat. -- Im Uebrigen ist die Cor- rectionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der Anstalt auf Entwicklung einer christlichen Denk- und Empfindungsweise. Der Junge lernt dort endlich, das Gute wollen statt des Interessanten, und bei seinen Handlungen nicht sein Naturell, sondern das Gesetz in Frage ziehen. -- -- Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm von meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau bestätigt. Melchior hat sich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England gebeten ... Frau Gabor (bedeckt ihr Gesicht). Barmherziger Himmel! Frau Gabor. Ein unerhörtes, ſchamloſes Bubenſtück! Herr Gabor. Das fürchte ich! Frau Gabor. Nein nein — nie und nimmer! Herr Gabor. Um ſo beſſer wird es für uns ſein. — Die Frau fragt mich händeringend, was ſie thun ſolle. Ich ſagte ihr, ſie ſolle ihre fünfzehnjährige Tochter nicht auf Heuböden herumklettern laſſen. Den Brief hat ſie mir glücklicherweiſe da- gelaſſen. — Schicken wir Melchior nun auf ein anderes Gym- naſium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufſicht ſteht, ſo haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall — neue Relegation — ſein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt ſich nachgerade daran. — Sag' mir, Fanny, wo ſoll ich hin mit dem Jungen?! Frau Gabor. — In die Correctionsanſtalt — Herr Gabor. In die …? Frau Gabor. … Correctionsanſtalt! Herr Gabor. Er findet dort in erſter Linie, was ihm zu Hauſe ungerechter Weiſe vorenthalten wurde; eherne Disciplin, Grundſätze, und einen moraliſchen Zwang, dem er ſich unter allen Umſtänden zu fügen hat. — Im Uebrigen iſt die Cor- rectionsanſtalt nicht der Ort des Schreckens, den du dir darunter denkſt. Das Hauptgewicht legt man in der Anſtalt auf Entwicklung einer chriſtlichen Denk- und Empfindungsweiſe. Der Junge lernt dort endlich, das Gute wollen ſtatt des Intereſſanten, und bei ſeinen Handlungen nicht ſein Naturell, ſondern das Geſetz in Frage ziehen. — — Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm von meinem Bruder, das mir die Ausſagen der Frau beſtätigt. Melchior hat ſich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England gebeten … Frau Gabor (bedeckt ihr Geſicht). 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Frau Gabor. Ein unerhörtes, ſchamloſes Bubenſtück!
Herr Gabor. Das fürchte ich!
Frau Gabor. Nein nein — nie und nimmer!
Herr Gabor. Um ſo beſſer wird es für uns ſein. —
Die Frau fragt mich händeringend, was ſie thun ſolle. Ich ſagte
ihr, ſie ſolle ihre fünfzehnjährige Tochter nicht auf Heuböden
herumklettern laſſen. Den Brief hat ſie mir glücklicherweiſe da-
gelaſſen. — Schicken wir Melchior nun auf ein anderes Gym-
naſium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufſicht ſteht, ſo
haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall — neue Relegation
— ſein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt ſich nachgerade daran.
— Sag' mir, Fanny, wo ſoll ich hin mit dem Jungen?!
Frau Gabor. — In die Correctionsanſtalt —
Herr Gabor. In die …?
Frau Gabor. … Correctionsanſtalt!
Herr Gabor. Er findet dort in erſter Linie, was ihm
zu Hauſe ungerechter Weiſe vorenthalten wurde; eherne Disciplin,
Grundſätze, und einen moraliſchen Zwang, dem er ſich unter
allen Umſtänden zu fügen hat. — Im Uebrigen iſt die Cor-
rectionsanſtalt nicht der Ort des Schreckens, den du dir darunter
denkſt. Das Hauptgewicht legt man in der Anſtalt auf Entwicklung
einer chriſtlichen Denk- und Empfindungsweiſe. Der Junge lernt
dort endlich, das Gute wollen ſtatt des Intereſſanten, und
bei ſeinen Handlungen nicht ſein Naturell, ſondern das Geſetz
in Frage ziehen. — — Vor einer halben Stunde erhalte ich ein
Telegramm von meinem Bruder, das mir die Ausſagen der
Frau beſtätigt. Melchior hat ſich ihm anvertraut und ihn um
200 Mark zur Flucht nach England gebeten …
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